Der Gaul reist im Spezialkarton aus dem Odenwald

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Seit 1962 bietet nur noch Holzspielwaren A. Krämer Schaukelpferde in allen Größen, Schaukelstühle und Steckenpferde aus eigener Fertigung an. Foto: Stefan Schröder

Nachhaltig und ressourcenschonend: Wenn Marketingexperten der Spielwarenbranche einen Musterbetrieb suchten, wären sie bei Annette Krämer und Harald Boos genau richtig.

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WIESBADEN. Der Hof erinnert an Astrid Lindgrens Bullerbü. Neugierig reckt Cordula, das Schaf, den Kopf über den Holzverschlag, die Kolleginnen Nicola und Esmeralda halten sich scheu im Hintergrund. Hund Cora umspringt den Gast mit Gebell, im Bach hinterm Haus glucksen vier Enten. In der Remise wartet eine Kutsche darauf, dass die Fahrsaison endlich beginnt.

In dieser Umgebung werden Schaukelpferde zum Leben erweckt. Wir sind im Odenwald, also nennt man Annette Krämer und Harald Boos Gäulschesmacher. Eine aussterbende Gattung. Im 19. Jahrhundert verdienten sich Bauernfamilien etwas dazu, wenn sie im Winter Holzspielzeug schnitzten, drechselten und bemalten. In der Blütezeit existierten hier 23 Betriebe. Seit 1962 bietet nur noch Holzspielwaren A. Krämer Schaukelpferde in allen Größen, Schaukelstühle und Steckenpferde aus eigener Fertigung an.

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Früher reichte das CE-Prüfzeichen. Heute fordert der Gesetzgeber so viele Angaben über das Produkt zu Qualität und Sicherheit, dass ein Stempel auf dem Holzgaul nicht mehr reicht. Daher tragen die Pferde seit einigen Jahren einen Anhänger mit allen Angaben um den Hals. Wie einen Ausweis.

Für Annette und Harald sind die Vorschriften schon deshalb keine Hürde, weil sie seit jeher im Einklang mit der Natur leben wollen. „Tradition ist eine schöne Sache. Für uns ist wichtig, dass etwas lange hält.“ Kürzlich kam ein Nachbar mit einem alten Schoggegaul, dessen Farben verblasst waren. Das betagte Holzvieh war 104 Jahre alt, Hersteller Krämer. Bisschen Farbe drauf, dann sah er wieder aus wie neu.

„Unsere Produkte sollen nicht dem Körper schaden, wir verwenden umweltschonende Farben und Leim“, sagt Krämer. Holz von der Buche (Kufen), Pappel (Körper) und Kiefer (Kopf) stammt aus dem heimischen Wald, die Abfälle wandern in den Ofen. Auf dem Dach sitzt eine Photovoltaikanlage.

Geschäfte müssen schließen, der Internethandel blüht

In diesem Jahr wird der Handel mit Spielwaren erstmals zu 50 Prozent über das Internet abgewickelt, meldet der Bundesverband des Spielwaren-Einzelhandels (BVS). Auch hier wirkt die Pandemie wie ein Brandbeschleuniger. Geschäfte müssen schließen, der Internethandel blüht. Das sorgt sogar für ein sattes Plus im Umsatz, der selbst durch den späten Lockdown nicht mehr stark gebremste werde. 3,7 Millionen Euro oder plus 8 Prozent.

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Was bleibt davon in Beerfurth hängen? Vorsichtig ausgedrückt weniger als nichts. „In guten Jahren haben wir mehr als 200 Pferde hergestellt und verkauft, dieses Jahr werden es vermutlich nicht mal 100 werden“, erzählt Harald Boos. Schwiegervater Adam Krämer hatte das Sortiment erweitert und ein Ladenlokal mit Schaufenster an der Bundesstraße eingerichtet. Schaukelstühlchen, Miniaturpferde für die Touristen oder zugekauftes Holzspielzeug sorgen für Zusatzumsatz. Jetzt ist der Laden dicht; die Tür öffnet sich nur bei Abholung.

Noch ein paar Jahre bis zur Pensionsgrenze

Auf einen Online-Shop verzichten die beiden bisher. „Wir haben den Luxus das zu tun, was wir möchten“, sagt Annette Krämer. Bestellen kann man über die Internetseite gaeulschesmacher.de per E-Mail oder per Telefon. Vorkasse. Dann reist der Gaul im Spezialkarton per Post an. Vor Weihnachten werde das aber nichts mehr, sagt Boos. Da die Pferde auch Rollen haben, eigne sich sein Ross auch für den Betrieb im Freien während der warmen Jahreszeit.

Und warum jubelt alle Welt über naturgetreues Holzspielzeug und kauft dann Plastik für die Kinder? Boos hat eine Antwort. „Die Erwachsenen lassen die Kinder nicht selbst entscheiden.“ Die änderten sich nicht. Sprich: Wer einmal auf dem Gaul geschaukelt hat, will nicht mehr runter.

Das Team Krämer/Boos hat noch ein paar Jahre bis zur Pensionsgrenze. Tarife gelten für die Beiden nicht: „Urlaub ist Hiersein“, sagt Annette. Bis ins hohe Alter wollen sie trotzdem nicht in der Werkstatt hocken, in der alles gemeinsam geschafft wird. Vielleicht komme eines Tages jemand zur Tür herein und rufe: „Hey, das wäre was für mich.“ Wenn die Bedingungen stimmen, sagen wir dann nicht Nein“, meint Annette. Bei ihrem Mann war das so. Das war vor fast einem Vierteljahrhundert. Aber vorher hatte er sich für Annette als Ehefrau entschieden.

Von Stefan Schröder