Heimat erfahren: In Braunfels ist das Fachwerk einen Besuch wert
Bei der fünften Tour unserer diesjährigen Radserie führt eine extrem kurze und idyllische Route von Wetzlar nach Braunfels. In der Kurstadt spielt diesmal das Fachwerk eine zentrale Rolle.
Von Pascal Reeber
Redakteur Wetzlar
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BRAUNFELS - Fachwerk kann bekanntlich nicht reden, Gerhard Adam dafür umso besser. Wer mit dem ehemaligen Lehrer und heutigen Stadtführer durch Braunfels schlendert und dabei nur einen Bruchteil seines Wissens aufsaugt, der sieht die Stadt mit anderen Augen. Denn das Fachwerk ist nicht bloß statisches Element. Es transportiert Informationen über die Erbauer, die Bewohner und ihre Zeit. Und so ist eine Radtour in die Kurstadt auch eine veritable Zeitreise.
Punkte, Kreuze, Farben und Kreise: Fast alle Gestaltungselemente im Fachwerk haben eine Aussage. "Und kaum ein Haus hat eine solche Symbolik wie die Zehntscheune", sagt Adam. Der Bau ist nicht zu übersehen, das frühere kaiserliche Postamt steht am Beginn der Straße "Am Kurpark", die zum Marktplatz und zum Schloss hinauf führt.
Die Zehntscheune: Das frühere kaiserliche Postamt strotzt vor Symbolik. Bemerkenswert sind die Hessenmänner (links und rechts des Erkers), Löwenköpfe als Zeichen der Stärke (oben links), das Portrait des Besitzers (links am Erker), Spiralen, Eileisten und vieles mehr. Foto: Pascal Reeber
"Scheune", dieser Begriff ist älter und stammt aus einer Zeit, in der an dieser Stelle ausschließlich Scheunen standen. Nach dem Stadtbrand im Jahr 1679, bei dem sogar das Schloss so sehr in Mitleidenschaft gezogen wurde, dass der Graf nach Oberndorf umziehen musste, erließ dieser ein Verbot aller Scheunen innerhalb der Stadtmauer. Sie sammelten sich unterhalb des Marktplatzes.
Die Zehntscheune in ihrer heutigen Form entstand 1902 und protzt nur so mit Symbolik. Es gibt geschnitzte Löwenköpfe, die für die Kraft stehen, Frauenköpfe, die Weitsicht symbolisieren, Rauten, ein Zeichen für Fruchtbarkeit und gekreuzte Balken, die wie ein Multiplikationszeichen den Wunsch nach Fruchtbarkeit vervielfachen. Auch auf eine ganze Reihe schöner Hessenmänner weist Gerhard Adam hin. Es handelt sich dabei nicht um die Braunfelser Bevölkerung. Sondern um ein Konstruktionselement - Balken, die so gekreuzt werden, dass sie wie ein menschliches Skelett mit Armen und Beinen aussehen. "Dahinter befindet sich eine tragende Wand", sagt Adam. "Man kann also von außen genau die Raumeinteilung erkennen."
TOURINFOS
Name: Neidköpfe, Hessenmänner, Göring und der Jude Start+Ziel: Haarplatz Wetzlar Länge: 25 Kilometer Dauer: 3,5 Stunden Höhenmeter: 455 Steigung: moderat Orte: Wetzlar, Oberndorf, Braunfels, Burgsolms, Oberbiel ÖPNV: Wetzlar, Bushaltestelle Haarplatz. Autofahrer finden dort auch Parkplätze.
Schon bei der Anreise von Wetzlar nach Braunfels ist Fachwerk zu bestaunen - das Hofgut Magdalenenhausen hat passenderweise einen Bezug nach Braunfels: Nach dem Tod seines Vetters Heinrich Trajektin von Solms-Braunfels erbte Graf Wilhelm Moritz, bis dato in Greifenstein residierend, die Herrschaft über Braunfels und Hungen - und zog nach Braunfels um. Doch das war seiner Frau Magdalena nicht recht. "Sie hatte in Greifenstein fünf Kinder verloren und wollte sie nicht zurücklassen", erzählt Gerhard Adam dem ADFC-Kreisvorsitzenden Peter Fuess, der auch bei diesem Teil der Reihe "Heimat erfahren" als Tourenleiter fungiert. So ließ Wilhelm Moritz ein repräsentatives Fachwerkhaus errichten - das heutige Hofgut -, von dem aus, so die Sage, Greifenstein und Braunfels zu sehen waren.
Doch lassen wir Greifenstein mal hinter uns. Für die Tour nach Braunfels hat Fuess eine sehr direkte Route ermittelt - nur gut zehn Kilometer sind es vom Haarplatz aus. Es geht auf dem Magdalenenhäuser Weg aus der Stadt, über den früheren Panzerübungsplatz und durch viel Wald, was die Tour auch an heißen Sommertagen fahrbar macht. Erst in Oberndorf muss eine Hauptstraße gequert werden, ansonsten sind die Radler mit sich, der Geschichte und der Natur weitgehend allein.
Zum Aufstieg nach Braunfels wird ein schmaler Pfad längs der Attenbachstraße genutzt. Dort geht es sehr sanft und wiederum schattig nach oben.
In der Kurstadt gibt es massig Fachwerk und es ist ratsam, sich einen Experten wie Gerhard Adam zu suchen oder eine Stadtführung zu buchen. Adam führt dann auch zu den Fratzen an den Streben des "Schmidtschen Hauses" in der Straße "Schütt". Ihr Zweck: "Die Nachbarn, die neidisch auf das große Haus schauten, verärgern. "Neidgesichter" werden sie daher genannt.
Einige Meter weiter in der Borngasse steht ein Fachwerkhaus, das sogar prämiert ist. Für die Sanierung der früheren (da schließt sich der Kreis) Poststation erhielt Bernd Seeger 2011 den Denkmalschutzpreis des Lahn-Dill-Kreises. Moment! Fachwerk? Das Haus ist doch verputzt. "Tja", sagt Seeger und grinst, "ich wohne in einem bauzeitlich verputzten Fachwerkhaus".
Der Hintergrund ist schnell erklärt: Fachwerk war billig, Stein war teuer. Wer wenig Geld hatte, aber trotzdem einen auf dicke Hose machen wollte, der baute Fachwerk und verputzte es. Die Besonderheit an Seegers Haus: Er hat es nicht mit modernem Zementputz verkleidet, sondern auf möglichst originalgetreue Materialien gesetzt. Der Kalkputz ist wasserdurchlässig, es gibt keine Dampfsperren in den Wänden. "Wenn ich drinnen einen Eimer Wasser an die Wand schütte, ist er nach einer Stunde weg", erklärt Seeger das Prinzip: Das Haus atmet, drinnen sammelt sich keine Feuchtigkeit und damit auch kein Schimmel. Das Wohnklima ist super, schwärmt Seeger, die Räume sind hoch und das Haus hat für sein Alter (Baujahr um 1800) viele Fenster - weil es eben mal Poststation war.
Dann geht es auch schon weiter, der Kopf ist voll vom Fachwerkwissen und die Beine wollen wieder bewegt werden. Also wird der Heimweg angetreten. Gerhard Adam hat zuvor noch ein Anekdötchen zum Besten gegeben, das die Radlern bei der Abfahrt nach Burgsolms schmunzeln lässt.
1938 hatte sich Adolf Hitlers Stellvertreter Hermann Göring zum Besuch in Braunfels angemeldet. Auf dem Marktplatz stand die patriotische Bevölkerung stramm und wartete. Als dann ein Motorradfahrer an der Apotheke um die Ecke bog, gingen die Hände zum Hitlergruß nach oben. Denn man hielt das Motorrad für Görings Meldefahrer. "Tatsächlich aber handelte es sich um den allseits beliebten jüdischen Rennfahrer Jakob Salomon", erzählt Gerhard Adam und muss selbst schmunzeln. "Mein Vater sagte dann: Da hat der Jud' dem Göring die Schau gestohlen."