Bernadette Heerwagen liest beim Gießener Krimifestival

Professioneller und charmanter Auftritt: Bernadette Heerwagen bei der Lesung in der Tanzschule "Astaire's". Foto: Schultz
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Die Schauspielerin Bernadette Heerwagen ist bekannt aus dem Ermittlerteam der ZDF/ORF-Krimiserie "München Mord" und lässt in der Gießener Tanzschule "Astaire's" die...

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GIESSEN. Einen rundum kurzweiligen und inhaltlich ansprechenden Auftakt nahm das 18. Krimifestival in der Tanzschule "Astaire's". Im mit 150 Besuchern ausverkauften Saal las Bernadette Heerwagen einige Kapitel aus dem Roman "Ohne Spur" von Haylen Beck. Und dabei bewies die Schauspielerin, dass der Zauber des Vorlesens nach wie vor ungebrochen ist. Ansonsten war alles wie immer, wenn man von der Zwangspause vor einem Jahr absieht: Die Sparkassenband spielte mild ein paar Songs, dann traten Sparkassenchef Peter Wolf und Vorstandsmitglied Ilona Roth auf die Bühne, um das Publikum zu begrüßen und den Gast des Abends in einem kleinen "Kreuzverhör" zu befragen. "Sie seien stolz, das Krimifestival nun schon 18 Jahre zu begleiten", sagte Roth und wies darauf hin, dass der Veranstaltungsreigen nach den 2G-Regeln ablaufe. Dann noch ein paar Erinnerungen an durchaus prominente Vorleserinnen und Vorleser wie Armin Rohde, Mark Waschke oder Christine Urspruch. Fazit: Das Festival kann sich im bundesweiten Vergleich absolut sehen lassen.

Bernadette Heerwagen ist bekannt aus dem Ermittlerteam der ZDF/ORF-Krimiserie "München Mord". Sie hat für Rollen in "Grüße aus Kaschmir" und "An die Grenze" zweimal den Grimme-Preis erhalten und wurde zudem für ihre Rolle als Bauerntochter Leni in "Der Schandfleck" ausgezeichnet, also eine erfahrene Film- und TV-Schauspielerin. Die 44-Jährige wohnt mit ihrem Mann, Schauspieler Ole Puppe, und zwei Kindern auf einem Hof im Allgäu, erfuhr man. Wer sich um die kümmere, wenn sie hier sei, hakte Wolf im "Kreuzverhör" nach. "Ich hab' ja einen Mann", sagte Heerwagen, und hatte die Lacher auf ihrer Seite, als sie auch noch hinzufügte, jetzt wo sie hier vorlese, tue ihr Mann gerade das Gleiche zu Hause mit den Kindern. "Mutter" sei ihr auch der wichtigste Titel von allen Preisen. Dabei verpasse sie simultan zum Gießener Auftritt in Hamburg die Wahl zur "coolsten Kommissarin", die sie nicht gewann, obwohl sie schon unter den ersten drei lag.

Der Krimi des Abends stammt vom nordirischen Autor Stuart Neville, der unter Pseudonym veröffentlicht. Da flieht Audra Kinney mit ihren zwei Kindern aus einer schädlichen Beziehung in New York in Richtung Kalifornien. Bernadette Heerwagen fängt vorne an und zieht die Zuhörer, die im Lauf der Zeit immer stiller werden, direkt in die Geschichte hinein. Der Schriftsteller verdichtet die Handlung dabei zur Reise- und Spannungsgeschichte einer Familie unter Bedrohung, die sich in Sicherheit bringen muss, ganz elementar. Harmlose Dialoge mit den Kindern, Kleinigkeiten des Alltags, aus dem sie vor der Jugendbehörde geflüchtet ist, erfährt man, weshalb sie nur auf Nebenstraßen fährt, um nicht von der Polizei angehalten zu werden (vielleicht gibt es eine Fahndung wegen der Kinder, die ihr abgenommen werden sollten). Aber dann, in der Wüste Arizonas, als sie gerade eine Unterkunft ausgemacht hat, die nur noch ein paar Kilometer entfernt ist, taucht ein Streifenwagen hinter ihr auf. Und der bleibt dran und stoppt sie. Der Autor entfaltet nun den amerikanischen Albtraum: die Polizei kontrolliert mitten im Nirgendwo, findet irgendwas, und man muss erstmal ins Gefängnis. Hier ist es eine Tüte mit Cannabisblättern, die Audra aber noch nie gesehen hat, und clean sei auch schon länger.

Nicht erst hier zeigt sich Heerwagens Erfahrung im professionellen Umgang mit Sprache. Sie schaut kaum vom Text auf, versenkt sich ganz in die Geschichte. Routiniert gibt sie den Kindern klar erkennbare separate Stimmen und lässt so vor dem geistigen Auge der Zuhörer ein authentisches Szenarium entstehen, während sie Audras wachsende Nervosität spürbar werden lässt.

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Besonders beachtlich ist, wie sie den allmählich zunehmenden Details in Aussehen und Benehmen des hinter seiner Distanzsonnenbrille vollkommen unnahbaren Sheriffs eine allmählich unheimlicher werdende Dramaturgie verleiht. Der Zuhörer weiß schon vor der Heldin, dass hier etwas gewaltig nicht stimmt, und wird gewissermaßen schon vor ihr nervös. Das ist auch exzellent geschrieben, und Heerwagen entfaltet das immer bedrohlichere Szenario - die Mutter muss für eine Nacht ins Gefängnis, die Kinder werden vom weiblichen Deputy abgeholt und wer weiß wohin gebracht. Ein Hauptstressfaktor ist die stereotype Antwort auf Audras und der Kinder Fragen, wo sie denn hinkommen? "An einen sicheren Ort", sagen die Wüstencops immer nur, was für ein bedrohlicher Quatsch.

Selbst als Heerwagen ganz kurz aus der Geschichte rausrutscht - es ist ein langer Textstreifen -, schafft sie es mühelos, das Publikum komplett zum Mitschwingen zu bringen: Kein Muckser ist zu hören, während alle miträtseln, was es denn mit dieser bedrohlichen Lage auf sich habe. Und als routinierte Schauspielerin gestaltet sie den bedrohlichsten Moment, in dem das Unheil zu ersten Mal sein Ausmaß erahnen lässt, mit vollendeter dramaturgischer Präzision und lässt den Saal in vollkommener Unsicherheit einfach zurück: ein perfekter Cliffhanger, für den sie heftigen Applaus erhält.