Die Endkatastrophe stellt sich zugleich als Neuschöpfung dar.
. Jedes Mal, wenn Wagner den Mund auftue, geschehe irgendein Unglück, kommentierten böse Zungen die Schlussansprache des Meisters nach dem Ende der Uraufführung der „Götterdämmerung“ 1876 im Bayreuther Festspielhaus. Wagner sagte da abschließend: „Sie haben jetzt gesehen, was wir können, nun ist es an Ihnen, zu wollen. Und wenn Sie wollen, so haben wir eine Kunst.“ Nein, nein, das heißt natürlich nicht, dass es vor Wagner keine Musik gegeben oder dass sie nur in einem embryonalen Zustand existiert habe, wie Camille Saint-Saëns witzelte. Bei der Abschlussparty am nächsten Abend im Festspielrestaurant erläuterte er seine Worte: Er habe nur gemeint, dass die Deutschen keine nationale Kunst wie etwa die Italiener und die Franzosen hätten. Eine solche zu schaffen, sei sein Anliegen. Uneindeutig wurde vom Publikum auch der Schluss der „Götterdämmerung“ interpretiert, an dem Wagner ja auch mehrfach Änderungen vorgenommen hatte: Heroisierung des Untergangs? Apotheose? Katharsis? Eher letztere, also Reinigung! Der Weltenbrand, mit dem die Tetralogie schließt, ist eine Weltschöpfung, der Mythos vom Weltende ein Gründungsmythos, denn die Endkatastrophe stellt sich zugleich als Neuschöpfung dar. Das Schlussbild der Bayreuther Aufführung suggerierte eher anderes und ließ Platz für pseudoreligiöse Auslegungen.
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Eindeutigkeit war Wagners Sache generell nicht. Das monierten auch die Mitwirkenden. Der Komponist und Festspielleiter war ja gleichzeitig auch Regisseur der Aufführungen, auch wenn es diesen Beruf, wie wir ihn heute kennen, noch nicht gab. Auf einer Gedenktafel, die im Festspielhaus angebracht ist, sind die Mitwirkenden von 1876 aufgeführt: Sängerinnen und Sänger, der Dirigent, die Bühnen- und der Kostümbildner und der szenische Leiter. Der Dessauer Ballettmeister Hans Fricke war für die Choreographie zuständig, koordinierte die wenigen Massenszenen, half den besonders ungelenken Sängern. Und Wagner? Der saß bei den Proben an einem Holztischchen am Bühnenrand, überwachte von dort sowohl das Orchester als auch das Bühnengeschehen und griff, falls nötig, ein. Dann sprang er auf die Bühne, spielte und sang vor, um am nächsten Tag alles umzuschmeißen. Die permanenten Änderungen, das Nicht-Festlegen-Wollen verunsicherte die Mitwirkenden, die dann das taten, was sie für richtig und wirkungsvoll hielten, und dadurch wiederum den Unmut des Meisters hervorriefen.
Das Missfallen Wagners musste auch der Schluss der „Götterdämmerung“ erregen. Waren noch Siegfrieds Tod, der Trauerzug, die Totenklage der Brünnhilde von einer Eindrücklichkeit, der sich niemand entziehen konnte, hatte das Ende „Momente, die erbarmungswürdig waren und auf keiner Bühne vorkommen dürfen.“ Der Scheiterhaufen verglühte vorzeitig, der Rhein „wackelte“ wie das „Rothe Meer in einer Provinzvorstellung von Rossini’s ‚Moses’, so der spitzzüngige Hanslick, und als die Rheintöchter jubelnd den Ring in die Höhe hielten, verschwand der Sänger des Hagen in den Kulissen und man sah an seiner Stelle den Choreographen Fricke im Rhein schwimmen.
Aber auch wenn es Wagner nicht gelang, mit seinem ersten kompletten „Ring“ Musteraufführungen auf die Bühne zu stellen, war ein Anfang gemacht, der in diesem Jahr mit einem neuen Bayreuther „Ring“ in der Inszenierung von Valentin Schwarz eine Fortführung erfahren hätte. Doch die ist Corona bedingt verschoben, erst einmal auf das Jahr 2022.
Von Bernd Zegowitz