Der Schriftsteller warnte schon vor alternativen Fakten: Die aktuellen Ausgaben seiner Romane führen in unsere Gegenwart.
. Vor einem Jahr sind mit George Orwells 70. Todestag die Urheberrechte auf seine Werke erloschen. Der Manesse-Verlag hat nun als erster neue Übersetzungen der beiden wichtigsten und erfolgreichsten Bücher von George Orwell vorgelegt: Die Edition von „Farm der Tiere“ und „1984“ markiert einen neuen Qualitätsstandard, ist also alles andere als ein vor allem gewinnorientierter „Schnellschuss“.
Orwell hat „Animal Farm“ als „A Fairy Story“ bezeichnet; „Farm der Tiere“ firmierte früher als „Fabel“, wird nun aber mit trefflicher Begründung als „Ein Märchen“ bezeichnet. Es ist neu vom erfahrenen Ulrich Blumenbach übersetzt worden, der sich auch „Clockwork Orange“ von Anthony Burgess sowie Werken von Truman Capote gewidmet hat. Der Schriftsteller Gisbert Haefs, der ebenfalls routinierter Übersetzer ist, hat den Roman „1984“ ins Deutsche übertragen. Beide Übersetzer haben ihre Aufgabe bravourös gemeistert. Ihre Texte wirken auf exzellentem Niveau frisch und erneuert, ohne kurzlebigen sprachlichen Launen zu folgen. Als Leser erfreut man sich an ihren geschmeidigen wie auch immer wieder an markanten, stets passenden Formulierungen. Genauso überzeugen die zeitgerechte Aufmachung und die editorische Sorgfalt dieser Ausgaben.
Der Begriff der Wahrheit verschwindet aus der Welt
So kann man in „Farm der Tiere“ zusätzlich Orwells wichtiges Vorwort zur ukrainischen Ausgabe von 1947 und seinen noch bedeutenderen Essay „Die Pressefreiheit“ lesen. Darin findet man ebenso visionäre wie leider bittere Realität gewordene Sätze wie: „Lügen sind es, die in die Geschichte eingehen werden“ und „Schon der Begriff der objektiven Wahrheit verschwindet aus der Welt.“ Was würde Orwell zur lügen-getränkten Brexit-Kampagne in seiner Heimat England sagen?
In beiden Bänden sorgt das jeweilige Nachwort für zusätzliche Akzente. Zu „Farm der Tiere“ stammt es von Eva Menasse, für „1984“ hat es Mirko Bonné verfasst. Beide Texte sind so gut gelungen, dass man insbesondere neuen Orwell-Lesern empfehlen möchte, sie vor der eigentlichen Lektüre zu lesen: Erhellende Gedanken ermöglichen einen sicheren eigenen Blick auf Orwells Werke.
Schon auf den ersten Seiten von „Farm der Tiere“ und „1984“ bemerkt man, wie dicht beide Werke am Puls unserer Zeit sind. Je intensiver man liest, desto überraschter ist man von der geradezu bedrängenden Aktualität beider Texte – und genau deshalb umso mehr bestürzt. Sind wir tatsächlich dabei, Orwells Horror-Phantasien zu übertreffen? Schon vor über 70 Jahren warnte der von Stalins UdSSR enttäuschte Sozialist vor den Gefahren totalitärer Entwicklungen in aussagekräftigen, inhaltsdichten Formulierungen und effektvollen Bildern. Es dürfte kaum Leser geben, die bei der einen und anderen Figur in beiden Bänden nicht sofort an einen aktuellen Politiker in Europa und in den USA, in China und Russland denken. Ebenso direkt bringt man die hier beschriebenen, beängstigenden Entwicklungen zu diktatorischen Verhältnissen mit aktuellen Tendenzen in Verbindung.
In besonderem Maß gilt dies für die von Orwell selbst in einem in „1984“ integrierten „Anhang“ erläuterten „Prinzipien von Neusprech“, bei denen man unweigerlich an den Begriff der „alternativen Fakten“ denkt. Zur Vollendung gebracht werden die „Neusprech“-Prinzipien aber in vielen Staaten der Welt, in denen egomane, auf Macht und Bereicherung fixierte Autokraten die Bevölkerungen gerade mittels sprachlicher Manipulation zu mehr oder weniger willigen Untertanen degradieren: Ob Boris Johnson von „Freiheit“ spricht, real aber Nationalismus meint, ob Erdogan Oppositionelle in der Türkei als „Terroristen“ bezeichnet und mit Willkür-Justiz verfolgt – eine Taktik, der in Putins Russland ebenfalls gefrönt wird – oder ob Kleptokrat Urban in Ungarn demokratische Prinzipien und Aktivitäten kriminalisiert: Diese Systeme missbrauchen genau wie Chinas Sprach- und Denk-Steuerung und Rund-um-die-Uhr-Totalüberwachung des Menschen ureigenstes Medium.
Orwell erläutert: „Der Zweck von Neusprech war es nicht nur, als Ausdrucksmittel für die gemäße Weltanschauung und Geisteshaltung zu dienen, sondern auch, jeden anderen Modus des Denkens unmöglich zu machen.“ Parallel dazu erkennt man auch in der charakterlichen Gestaltung der Figuren in „Farm der Tiere“ sowie in deren Entwicklung – insbesondere der Schweine und da vor allem ihres „Führers“ und seiner Lakaien – die totale Pervertierung eines ursprünglich angestrebten solidarischen Lebens unter Gleichberechtigten. Die rührend „tierische“ Gemeinschaft wird zur ausbeuterisch-herrischen Anti-Zivilisation.
Aber gerade der weltweit zu beobachtenden Parallelen zu realen Entwicklungen zum Trotz muss man Orwells Bücher vor allzu platter Übertragung auf aktuelle Umstände bewahren. Das würde sie als Schöpfungen eines unabhängigen, souveränen Künstlers unangemessen infrage stellen. Zudem macht insbesondere ihre Universalität sowohl „Farm der Tiere“ wie „1984“ so zeitlos gültig und immer wieder neu aktuell: und das nicht nur als Menetekel.