Skandal-documenta endet: Eine Chronologie der Ereignisse

Besucherschlangen vor dem Museum Fridericianum mit den von Dan Perjovschi gestalteten Säulen. Bis einschließlich 25. September ist die documenta 15 in Kassel noch zu sehen. Foto: dpa
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Schon vor dem Start im Juni gab es Vorwürfe des Antisemitismus gegen die „documenta fifteen“. Das Thema hat das „Museum der 100 Tage“ durchgängig begleitet. Eine Chronologie.

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KASSEL. Bis zum letzten Tag: Kaum eine andere documenta wurde seit 1955 so kritisiert wie die diesjährige Ausgabe. Zwischendurch gab es sogar Rufe, die Kasseler „Weltkunstausstellung“ ganz zu schließen. Aber der Skandal begann schon lange vor der Eröffnung am 17. Juni. Eine Chronologie der Ereignisse.

Die Entscheidung der Findungskommission für das indonesische Kuratorenkollektiv „Ruangrupa“ führt schon im Januar zu ersten Verwerfungen: Einige Medien erheben den Vorwurf, „Ruangrupa“ würde auch Künstler zeigen, die eine Petition der Initiative „Boycott, Divestment und Sanctions“ (BDS) unterschrieben haben. BDS ruft zum Boykott israelischer Produkte und Künstler auf – aus Protest gegen Israels Siedlungspolitik.

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Die Kritik spitzt sich zu, als das monumentale Wimmelbild „People’s Justice“ (2002) des Kollektivs Taring Padi kurz vor der Eröffnung aufgebaut wird. Darauf zu sehen: ein antisemitisch dargestellter Jude mit SS-Runen und eine Figur mit Schweinsgesicht und Mossad-Schriftzug. Nach massiven Protesten von jüdischen Organisationen wird das Bild zunächst verhängt, später abgebaut.

Ende Juni mehren sich die Rufe nach einer tiefgreifenden Strukturreform der documenta. So fordert der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, für die Zukunft mehr Mitsprache des Bundes. Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) will diesen Wandel in einem Fünf-Punkte-Plan angehen. Roth fordert mehr Einfluss auf die Schau und droht, andernfalls den Geldhahn zuzudrehen. Während die hessische Kunstministerin Angela Dorn (Grüne) die Forderungen Roths unterstützt, lehnt der Kasseler Oberbürgermeister Christian Geselle sie vehement ab.

Rücktritt der Generaldirektorin

Am 6. Juli entschuldigt sich das indonesische Künstlerkollektiv Taring Padi für die antisemitischen Motive in „People’s Justice“. Am 8. Juli ziehen sich zwei wichtige Unterstützer der Schau zurück. Zunächst gibt der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, bekannt, er stehe der Schau nicht länger beratend zur Seite. Später erklärt die deutsche Künstlerin Hito Steyerl ihren Rückzug von der Ausstellung. Mitte Juli erhebt die hessische Landtagsopposition schwere Vorwürfe gegen Ministerin Dorn. Die Ministerin habe sich weggeduckt, statt sich der Sache anzunehmen. Es müsse bei einer Ausstellung, die mit 40 Millionen Euro öffentlichen Geldern finanziert ist, deutlich sein, wer die Verantwortung trage.

Kurz darauf legt documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann ihr Amt nieder. Der Schritt wird von Kulturexperten als überfällig begrüßt. Nach einem Beschluss von Aufsichtsrat und Gesellschafterversammlung soll die Ausstellung nun grundlegend reformiert werden. Dabei sollen externe Experten helfen. Der frühere documenta-Geschäftsführer und Gründungsvorstand der Kulturstiftung des Bundes, Alexander Farenholtz, wird vorübergehend wieder Geschäftsführer.

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Ende Juli wird bekannt, dass in Kassel weitere als antisemitisch kritisierte Motive gefunden wurden. Ein Besucher hat entsprechende Darstellungen im Museum Fridericianum bemerkt und gemeldet. Es handelt sich um Darstellungen in einer Broschüre mit dem Titel „Presence des Femmes“, die 1988 in Algier erschienen ist. Die darin enthaltenen Zeichnungen des syrischen Künstlers Burhan Karkoutly zeigen teils antisemitische Stereotype. Die documenta weist die Vorwürfe zurück. Das historische Archivmaterial sei vor rund drei Wochen aus der Ausstellung genommen worden, um es eingehender zu betrachten.

„Nach der Untersuchung gibt es zwar eine klare Bezugnahme auf den israelisch-palästinensischen Konflikt, aber keine Bebilderung von Juden ‚als solchen‘“, heißt es in einer Stellungnahme. Nach der Sichtung sei das Material wieder in die Ausstellung aufgenommen worden. Einzelne Medien plädieren zwischenzeitlich dafür, die documenta zu beenden. Ein Abbruch der Ausstellung ist für Interims-Geschäftsführer Farenholtz keine Option. Auch eine systematische Prüfung aller verbliebenen Werke lehnt der 68-Jährige weiterhin ab.

Im August meldet die documenta, dass bisher 410.000 Menschen die Schau in der ersten Halbzeit besucht haben. Damit verzeichne die documenta fifteen in der Zwischenbilanz annähernd die Zahlen der bisher besucherstärksten Ausgabe 2017.

Als Reaktion auf die Antisemitismus-Vorwürfe installieren die Gesellschafter kurz darauf Monitore, auf denen in Englisch und Deutsch eine Erklärung zum Umgang mit der Kritik zu lesen ist. Auch die Beiträge der sieben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind zu lesen, die bei der Aufarbeitung des Eklats beraten sollen.

„Antizionistische, antisemitische und israelfeindliche Stimmung“

Mitte August gibt es neuen Wirbel um ein Werk von Taring Padi. Das Junge Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft kritisiert ein Bild als antisemitisch, auf dem ein Mann mit langer Nase und Geldsäcken mit einer Kippa zu sehen sei. Daraufhin wird die Kopfbedeckung von „Ruangrupa“ überklebt. Das Bild stelle allerdings die muslimische religiöse Führung in Indonesien dar, heißt es später – die Kopfbedeckung sei eine Kopiah, die bis zu den Ohren reiche.

Die Experten sehen Mängel im kuratorischen Umfeld, „das eine antizionistische, antisemitische und israelfeindliche Stimmung zugelassen hat“. Anfang September eine neue Debatte: Aus Sicht der Experten habe das Werk „Tokyo Reels Film Festival“ – propalästinensische Propaganda-Filme aus den 60er- bis 80er-Jahren – mit antizionistischen Versatzstücken und im Zusammenhang eingefügten Kommentaren von Künstlern eine „potenziell aufhetzende Wirkung“, von der eine größere Gefahr ausgehe als von „People‘s Justice“.

Mitte September schließen sich die Gesellschafter der documenta dem Votum der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an, wonach die „Tokyo Reels“ nicht mehr gezeigt werden sollen. „Ruangrupa“ sowie die documenta-Spitze weisen entsprechende Forderungen zurück. „Ruangrupa“ wirft dem Gremium zudem „eine rassistische Tendenz“ vor. Die Findungskommission stellt sich hinter „Ruangrupa“. Zuletzt hat Meron Mendel die Kuratoren als autoritär kritisiert. Wissenschaftliche Kritik als Falschinterpretation herunterzuspielen oder sie gar als Rassismus darzustellen, sei nicht zielführend.