Ein kleines Wesen vermehrt sich rasant und hebt die Welt aus den Angeln: Diese Erzählung von Stanislaw Lem regte den Bildhauer Wolf zu einem Kunstwerk an.
DARMSTADT. Das kulturelle Leben in Darmstadt ruht genauso wie der Betrieb an der Technischen Universität Darmstadt. Doch eine Tür ging Ende vergangener Woche für die Bildhauerei kurz auf: Der Darmstädter Künstler Georg-Friedrich Wolf hat sein Wandrelief „Nacht und Schimmel“ im Foyer des Historischen Maschinenhauses angebracht.
Das 130 mal 90 Zentimeter große Relief zeigt ein kleines pilzartiges Pflänzchen in der Form abstrahierter Nägel, die durch ihr vorschreitendes Wachstum eine dicke rostige Stahlplatte zu sprengen scheint. Der Darmstädter Bildhauer sagt dazu: „Mir ist jetzt erst klar geworden, wie aktuell diese Arbeit ist, die ja bereits aus dem Jahr 1995 stammt. Hätte man mich vor zwei Jahren gefragt, was ich damit sagen will, hätte ich nur gesagt: Sie steht für unsere generelle Verletzlichkeit. Im Moment dagegen wird unsere angeblich kugelsichere Gesellschaft ja bereits von einem nur unter dem Mikroskop sichtbaren Virus fast überfordert.“
Die Inspiration für „Nacht und Schimmel“ war 1995 eine gleichnamige Novelle von Stanislaw Lem, die 1969 in Polen erschienen ist und 1972 ins Deutsche übersetzt wurde. Darin entkommt eine Mikrobe aus einem explodierten Labor und nistet sich in der verwahrlosten Behausung eines merkwürdigen Alten ein. Dieser ist anfänglich neugierig und amüsiert, bis er bemerkt, wie das nette, kleine, unbekannte Wesen sich unaufhaltsam vermehrt. Schließlich durchbricht die Masse der geheimnisvollen Kügelchen zunächst in der Wohnung alle Schranken und entkommt dann ins Freie. Der Leser ahnt, dass es sich auf den Weg macht, die Welt aus den Angeln zu heben.
Auch angekauft für die Alte Maschinenhalle war das Relief schon lange, bevor Corona zum Thema wurde: „TU-Kanzler Manfred Efinger hat ,Nacht und Schimmel‘ Ende des vergangenen Jahres in meinem Atelier ausgesucht“, so der Künstler. Der Ankauf des Werks für die Universität wurde dabei durch die Unterstützung von Professor Volker Hinrichsen möglich: Der ehemalige Leiter des Fachgebiets Hochspannungstechnik hatte anlässlich seiner Emeritierung im Februar zu Spenden statt Geschenken aufgerufen.
„Hätte ich mir einen Tag für diese Hängung aussuchen dürfen, hätte es wohl trotzdem keinen passenderen geben können“, sagt Wolf. Denn seine Arbeiten beschäftigen sich nicht nur immer wieder mit den Prozessen von Entstehung und Vergänglichkeit, dem Grundprinzip aller natürlichen Vorgänge. Sie fragen in der Abstraktion von hier blitzblank geputztem Stahl, da verrostetem Eisen, dem selbstgeschmiedete Nägel menschliche „Stempel“ aufdrücken, immer wieder auch nach gesellschaftlichen Konflikten und dabei mahnen solidarisches Miteinander an.
Das bislang letzte Beispiel ist die monumentale Skulptur „Odyssee“, die Wolf 2016 mit der Hilfe von über 70 Flüchtlings-Immigranten neben seiner damaligen Werkstatt auf dem Hofgut Habitzheim geschaffen hat. Diese hoch politische Arbeit stellte er zunächst am Kanzleramt in Berlin auf, danach wurde die „Odyssee“ im Rahmen der Wanderausstellung „Kunst trotz(t) Ausgrenzung“ auf Betreiben der Bundesregierung an sieben Stationen in Deutschland gezeigt. Ähnliches gesellschaftliches Bewusstsein fordert Wolf von Künstlern auch in diesen Tagen an: „Es unsere Aufgabe, aufzulockern und bedrohten Menschen etwas an die Hand zu geben. Vielleicht ist der Künstler derzeit ja wie der Arzt aufgefordert, furchtloser zu sein.“
Wolf selbst jedenfalls holt sich sein „positives, der Gesundheit förderliches, Gefühl“, davon, dass er weiter täglich mit einem Mitarbeiter in seiner Darmstädter Werkhalle als Bildhauer arbeiten kann. „Ich habe im Moment eine extrem kreative Phase.“ Über die Plastik „Nacht und Schimmel“, die ihren Rost beim langen Stehen im Freien bekommen hat, danach jedoch gebürstet und geölt wurde, schwärmt er: „Die Oberfläche ist extrem schön, und man blickt direkt beim Eintreten ins Foyer der Maschinenhalle darauf. Sie hängt an einer halbrunden Wand, was mit den Formen des Werks exzellent korrespondiert.“
Von Annette Krämer-Alig