Raquel Erdtmann stellt in der "Kulturkirche" St. Thomas Morus ihre Gerichtsreportagen vor und macht dabei deutlich: "Es gibt dusselige Diebe und es gibt sehr dusselige Diebe."
GIESSEN. Diebstahl, Raub und Unfallflucht gehören zum Alltag. Eher selten finden sich im Vergleich dazu Heiratsschwindler oder Kunstfälscher. Mord und Totschlag wiederum kommen ziemlich häufig vor. Ganz zu schweigen von Drogendelikten aller Art. Justitias Mitarbeiter haben also allerhand zu tun mit kleineren Fehltritten und bösartigen Missetaten. "Wenn wir Prozesse studieren", sagte einst Robert Kempner, "dann lernen wir mehr Weltgeschichte als durch die Schilderung von Schlachten und militärischen Niederlagen." Denn für den US-Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen spiegeln sich in den großen spektakulären ebenso wie in den kleinen unauffälligen Verfahren Politik und Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft einer Nation wider.
Genau das macht die Faszination der Aufgabe der Gerichtsreporterin und des Gerichtsreporters aus. Und dieser Anziehungskraft ist offenkundig auch Raquel Erdtmann erlegen, die regelmäßig für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) von der Tätigkeit der Strafgerichte berichtet. Unter dem Titel "Und ich würde es wieder tun" hat die Autorin insgesamt 32 bemerkenswerte Fälle als Buch veröffentlicht. Beim Gießener Krimifestival hat die in Frankfurt lebende Journalistin nun drei davon in der Katholischen Pfarrei St. Thomas Morus vorgestellt. Und als "Nachschlag" gab es noch eine bislang ausschließlich in der FAS erschienene Reportage obendrauf.
Schauspieltalent
Zum Schreiben ist Raquel Erdtmann relativ spät und eher durch Zufall gekommen. Ein Bekannter hatte sie mit zum Landgericht genommen und dort fand sie es überaus spannend, "die Szenerie zu beobachten", hat sie selbst in verschiedenen Interviews geschildert. Das vermag auch kaum zu überraschen, schließlich hat sie Schauspiel an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Frankfurt studiert. Sie hat also einen geschulten Blick für Dramaturgie, Figurenkonstellationen und Inszenierungen. Entsprechend professionell ist auch ihr Gastspiel auf der Bühne der "Kulturkirche". Obendrein ist der freien Autorin die Freude über den Liveauftritt in Gießen anzumerken. "Das ist meine erste Präsenzlesung seit dem Ausbruch von Corona", erzählt sie. Und schon legt Raquel Erdtmann los mit dem Gerichtsbericht "Besessenheit. Ein schönes deutsches Wort". Der Fall dreht sich um Martin, der gerade 40 Jahre alt geworden ist und sein ganzes Leben bei seiner Mutter gewohnt hat. Schon seit seiner Jugend hat er sich immer mehr zurückgezogen, von den Freunden, von der Welt da draußen, bis er fast mit niemandem mehr spricht. Seine Tage verbringt er allein in seinem Zimmer, kreiert dort auf dem Papier eine neue radikale Weltordnung und ergeht sich in Tötungsphantasien. Sein Vater, die Stiefmutter und die Stiefschwester werden die Opfer seiner brutalen Attacken. Die drei überleben und so bleibt es beim versuchten Mord in drei Fällen.
Es dauert eine geraume Weile, bis die Zuhörerinnen und Zuhörer in dem herbstlich temperierten Gotteshaus einen akustisch zufriedenstellenden Sitzplatz ausgemacht haben und sich auf die skurrile Geschichte um den Angeklagten einlassen, der seine Fingernägel und sein altes Haar sammelt, alles aufschreibt und dabei seine Angehörigen mit vulgären Beschimpfungen tituliert.
Mit "Ascolti! Ascolti!" gewinnt die Gerichtsreporterin dann aber dank ihres Schauspieltalents die ungeteilte Aufmerksamkeit des Publikums: Gestenreich, mit an die Protagonisten angepasstem Akzent und variierender Lautstärke erzählt sie von einem Prozess, der einer Oper glich. Identisch ist auch der Artikel aufgebaut mit der Vorstellung der auftretenden Akteure, Ouvertüre und vier Akten. "Ich bin sehr froh, dass das Politikressort der FAS nachsichtig war und den Text genauso abgedruckt hat", sagt Raquel Erdtmann.
"Sehr dusselige Diebe"
Angeklagt ist versuchter Totschlag. Einem kleinen, alten Italiener mit beachtlichem Körperumfang wird von der Staatsanwaltschaft zur Last gelegt, in einem Wettbüro im Bahnhofsviertel, in dem er Stammgast ist, einen großen, hageren, deutlich jüngeren Mann aus Mosambik ein Messer in den Bauch gestoßen zu haben. Etliche Zeugen aus unterschiedlichen Ländern machen das Sprachengewirr komplett, in dem jeder eine andere Geschichte zu berichten weiß und der ungeduldige Titel "Hören Sie! Hören Sie" auf beinahe jeden passt. "Die Idee mit der Oper stammt von einer Wachtmeisterin", gesteht Raquel Erdtmann lachend. Diese sei am dritten Verhandlungstag einem anderen Prozess zugeteilt worden und habe sie auf dem Gerichtsflur gefragt: "Gehen Sie wieder in die Vorstellung?" Darüber habe sie die Justizbedienstete nämlich "auf den neuesten Stand" bringen sollen.
Es bleibt leider bei diesem schlaglichtartigen Einblick in den Alltag der Prozessbeobachterin, die im Sitzungssaal mitunter auch mit schier unerträglichen Straftaten konfrontiert wird und am Rande der Hauptverhandlung mit ganz unterschiedlichen Menschen zusammentrifft. "Die Realität schlägt jede Fiktion" fasst die Autorin kurz und knapp zusammen. Das mag auch für ihre allererste Gerichtsreportage "Oma ist tot" gelten. "Siebzehn Jahre war Heinz, neunzehn Erna, als sie einander kennenlernten. Am 16. Juni ist ihr Hochzeitstag, es ist der fünfundsechzigste. Vor einem halben Jahr hat er sie umgebracht", lautet der lakonische Einstieg zu einem bewegenden Fall, in dem ein 85-Jähriger die Anfeindungen und Aggressionen seiner demenzkranken Frau nicht mehr ertragen konnte.
Raquel Erdtmann aber entlässt ihr Publikum mit einer eher heiteren Geschichte um "Pinocchios Wintergarten", die wiederum belegt, dass vor Gericht gar nicht selten auch gelacht wird. Denn: "Es gibt dusselige Diebe und es gibt sehr dusselige Diebe."
Raquel Erdtmann: "Und ich würde es wieder tun." Wahre Fälle vor Gericht. Fischer Taschenbuch, Frankfurt 2019, 256 Seiten, 14,99 Euro.