In seinen neuen Geschichten grübelt Bernhard Schlink darüber nach, wie im Falschen manchmal das Richtige stecken kann. Das Urteil fällt der Leser.
. Ein Informatiker wird von seiner DDR-Vergangenheit eingeholt. War der Mann wirklich überzeugt, das Richtige zu tun, als er seinen besten Freund an die Stasi verriet? Ein alleinstehender Lektor sieht tatenlos zu, wie die Nachbarstochter erstochen wird. Ein pubertierender Junge ist schockiert, als er beim Petting in den Dünen von frühreifen Zwillingsschwestern erfährt, dass seine Mutter den Vater ein paar Meter weiter immer wieder mit einem Fremden betrügt.
Überraschendes und Verstörendes hat Bernhard Schlink immer wieder erzählt. Meisterlich, wie man spätestens seit seinem Welterfolg „Der Vorleser“ (1995) weiß. Nichts, was der Autor und emeritierte Rechtsprofessor seitdem veröffentlicht hat, ist so kontrovers diskutiert worden, wie dieser Roman über die Liebe zwischen einem Schüler und einer zwei Jahrzehnte älteren einstigen KZ-Wärterin.
Daran werden Schlinks neue Geschichten zwar nichts ändern. Aber die souveräne Erzählweise, die schlichte und zugleich elegante Prosa, der anscheinend mühelose Spannungsaufbau und die oft überraschenden Wendungen lassen ebenso an Schlinks „Vorleser“ denken, wie sein Verzicht auf jedwedes moralisches Urteil über das Verhalten seiner Akteure.
Im neuen Erzählband wird reflektiert, ob und wie im „falschen Leben“ manchmal das richtige stecken kann – und umgekehrt. Der Informatiker, der seinen Freund verriet, träumt in der Erzählung „Künstliche Intelligenz“ von einem Gespräch mit ihm, das es nicht mehr geben kann, denn der Mann ist längst tot. Er hätte ihm gern noch gesagt, „dass es kein richtiges Leben im falschen gibt und dass das Leben in Freundschaft und gemeinschaftlicher Arbeit so, wie es hätte sein sollen, in der DDR nicht zu haben war“.
Wie eine Geschichte ausgeht, bleibt bei Schlink nicht selten offen. Auch bei der über den Lektor, der dem Mord an der jungen Anna, die er schon als Kind begehrte, aber niemals anrührte, und die ihn später öffentlich verhöhnte, von seinem Fenster aus tatenlos zuschaut. Der Polizei sagt er nichts. Aber er kramt die alte Pistole seines Vaters hervor. Wird er den Mörder richten? Oder sich selbst töten oder beides? Und was wäre das Richtige? Das Urteil überlässt Ex-Richter Schlink seinen Lesern.
Als die schöne und kluge Mutter in „Der Sommer auf der Insel“ erfährt, dass ihr Sohn von ihrem Fremdgehen weiß, streitet sie nichts ab. Was sie erlebe, sei schön, ebenso schön wie die zarten sexuellen Erlebnisse des Jungen mit den zwei Schwestern in den Dünen. „Wie sollte das falsch sein!“ Es sind Geschichten über Menschen, wie sie nun einmal sind oder sein könnten. Wenngleich in nicht unbedingt alltäglichen Situationen.
Ein Mann wird von seiner lesbischen Stieftochter betrunken gemacht und verführt. Nachdem all ihre Versuche, durch künstliche Befruchtung schwanger zu werden, Fehlschläge waren, erwartet sie nun endlich das ersehnte Baby. Der Stiefvater macht sich schwere Vorwürfe. Bis er erkennt, dass die eine Nacht mit der „falschen“ Frau das Glück mit der „richtigen“ nicht zerstören konnte. Fazit: „So oft wird aus etwas Richtigem etwas Falsches. Warum soll nicht ebenso aus etwas Falschem etwas Richtiges werden können?“
Von Thomas Burmeister