Auch Amüsement macht Arbeit: In seinem vielstimmigen Großstadtroman gleitet Thorsten Nagelschmidt durch eine Kreuzberger Nacht.
. Vom gewöhnlichen Dienst auf einer Berliner Polizeistation fühlt sich die ehrgeizige Anwärterin nicht genug gefordert. Sie möchte näher am Menschen arbeiten. Da teilt ihr Vorgesetzter sie einer Zivilstreife in Kreuzberg zu – „näher am Menschen geht nicht“. Der Erfahrungshunger der jungen Polizistin wird dann auch hinreichend gestillt in ihrem Einsatzgebiet zwischen Schlesischer Straße, Kottbusser Tor und Hermannplatz.
Auch der Leser dieses neuen Berlin-Romans kommt auf seine Kosten. Denn es ist einiges los in dieser einen Nacht, die den Handlungsrahmen des Romans bildet. Ein Koksdealer präpariert sich für seine nächtliche Verkaufstour durch die Clubs. Der Rezeptionist eines Hostels fragt sich, ob er als Faktotum nicht längst den Job einer sozialpsychiatrischen Pflegekraft versieht. Ein Heranwachsender mit arabischem Zuwanderungshintergrund versucht aus Frust und Langeweile, einen Spätkauf zu überfallen – und holt sich dabei eine dicke Lippe. Der Türsteher eines Clubs bemüht sich, alle Aspiranten abzuweisen, die an diesem Abend „zu stramm aufgezogen“ sind. Derweil dreht eine alternde Flaschensammlerin – sie hat als Buchhändlerin schon einmal bessere Tage gesehen – unbeirrt mit dem Lastenrad ihre Runden. Rettungssanitäter und Polizeikräfte, Taxifahrer und Fahrradkuriere, Thekenkräfte, Taschendiebe und Toilettenfrauen – sie alle tun in dieser Nacht ihre Arbeit, während andere sich amüsieren.
Auf den Brachflächen zwischen den Vergnügungsstätten, in den Nachtasylen und an den Umschlagplätzen befeuernder Substanzen findet Thorsten Nagelschmidt den Rohstoff für einen illusionslosen Gesellschaftsroman. Was sich für die Nachtschwärmer und Berlin-Touristen als schillernde Metropolen-Boheme präsentiert, erweist sich bei Nagelschmidts genauem Hinsehen als Panoptikum der Aufgedrehten, Abgehängten und Gestrandeten. Alle sind sie in der Nacht „mit sich selbst beschäftigt, ihrem Rausch und ihrer Balz und ihrer Selbstverwirklichung“, und werden dabei verfolgt von ihren Vergangenheiten und Verletzungen, die der Erzähler mit sparsamen Strichen vergegenwärtigt. Seine Art der Einfühlung kommt ohne Larmoyanz aus. Die Figuren mögen Opfer der Zustände sein – aber sie sind stets auch aktiv Mitwirkende an ihrem Schicksal. Solange ihre sozialen Instinkte hellwach sind, werden sie, jeder auf seine Weise, zu Helden dieser Nacht; sobald die Instinkte nachlassen, bringen sie sich in Gefahr.
Thorsten Nagelschmidt, auch als Musiker bekannt geworden mit seiner Band „Muff Potter“, legt unter dem schlichten Titel „Arbeit“ einen vielstimmigen Großstadtroman vor: rasant im Tempo, raffiniert im Timing, stimmig in den Tonfällen. Keine Frage, Nagelschmidt kennt die Locations, er weiß, wie die Leute ticken, die er beschreibt. Wenn er für ein paar Stunden dem Türsteher eines Clubs über die Schulter schaut, entsteht ganz nebenbei ein mutmaßlich repräsentativer Querschnitt durch die Berliner Partyszene. Dabei ist Nagelschmidt als Autor klug genug, mit seinen Milieukenntnissen nicht zu renommieren. Lieber arbeitet er als Erzähler im Hintergrund an einer raffinierten Choreografie, in der sich die Wege der Figuren immer wieder kreuzen: oft unbeabsichtigt, zuweilen in tragischer Eskalation, dann wieder auseinanderlaufend ins Unverbindliche. Und immer zeigen sich dabei unerwartete Seiten der Figuren.
Bei aller Rasanz und Unterhaltsamkeit verliert dieses Erzählen nie die entscheidende Frage aus dem Blick: Was ist in Zeiten des multimedialen Vergnügungskapitalismus geblieben vom herben Charme der Party-Hauptstadt? Die Antwort geben hier jene, die den Betrieb am Laufen halten – und die anderen im Dunkeln, die man nicht sieht und die den Preis zu zahlen haben für die Dauerparty, seien es die gesundheitlichen Konsequenzen anhaltenden Drogenkonsums oder die sozialen Folgen der Prekarisierung. Das letzte Wort in dieser Erzählung hat dann eine Mitarbeiterin der Berliner Reinigungsbetriebe. Irgendjemand muss ja den Dreck wegmachen.