„Italien – Porträt eines fremden Landes“ von Thomas Steinfeld

Historische Kulisse für ein Land im Krisen-Modus, hier vor dem Mailänder Dom: Thomas Steinfelds Italien-Buch erzählt auch von einem Land, das gelernt hat, mit Rückschlägen umzugehen. Foto: dpa
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Der frühere Italien-Korrespendent der Süddeutschen Zeitung zeigt ungewohnte Ansichten eines Sehnsuchtslandes und schaut auch hinter die Fassaden.

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. Fünf Jahre lang hatte Thomas Steinfeld einen der attraktivsten Posten inne, die im deutschen Journalismus vergeben werden: Kulturkorrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ für Italien, mit Dienstsitz Venedig. Von dort aus erkundete Steinfeld das Land, von Piemont bis hinunter nach Sizilien, dann an der Ostküste wieder hinauf in den Veneto. Das Ergebnis dieser italienischen Reise liegt jetzt vor: knapp 450 Seiten bester Reiseprosa, ebenso anschaulich erzählend wie profund reflektierend, mal als Plauderei über italienische Musik, Mode und Design daherkommend, oft als kunstsoziologische Betrachtung, etwa über die historische Soziologie der Piazza. Im Duktus der Sozialreportage leuchtet Steinfeld Randbereiche aus (etwa die Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie von Prato), als Literaturkritiker setzt er Elena Ferrantes Neapel-Saga in Beziehung zur andauernden Gegenwart prekärer Daseinsformen in Neapel.

Aufgegebenes Versprechen von besserem Leben

So kompakt und so elegant auf den Punkt gebracht hat man die Gegenwart und andauernde Attraktivität dieses nicht nur deutschen Sehnsuchtslandes in letzter Zeit selten dargestellt gesehen. Dazu kommt der touristische Gebrauchswert dieses Buches (der sich freilich derzeit kaum zeigen kann): Steinfeld weiß, von wo man den besten Blick auf Sehenswürdigkeiten hat, und er geizt nicht mit Hinweisen auf etliche, die selbst für erfahrene Italienreisende neu sein dürften. Mit Steinfeld als Cicerone gibt es viel zu entdecken.

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Indes macht die sparsame Ausstattung des Bandes mit bewusst unspektakulären Schwarz-Weiß-Fotos deutlich: Hier wird nicht das idealisierte Bild von Bella Italia bedient. Historisch, kunstgeschichtlich und literarisch bestens vorbereitet, misst Steinfeld die überlieferten Erwartungen an seinen aktuellen Erfahrungen aus den Jahren 2013 bis 2018. In Rom zum Beispiel schaut er nicht nur auf historische Fassaden, sondern auch auf die Bauruinen an den Ausfallstraßen – und liest sie als landestypisches Zeichen für ein von der Politik längst aufgegebenes Versprechen von Fortschritt und besserem Leben. Nicht nur in Rom (,das erst Mitte des 19. Jahrhunderts wieder in sein antikes Maß hineinwuchs), fast in jedem „Centro storico“ erweist sich das scheinbar historisch Authentische auch als Inszenierung. Sienas Dom, „im 19. Jahrhundert systematisch in die Gotik zurückgebaut“, weite Bereiche der Toskana, die Adria und erst recht Venedig (dem Steinfeld ein wehmütig desillusionierendes Kapitel widmet) – überall wird Vergangenheit für sehr gegenwärtige Zwecke inszeniert. Im 19. Jahrhundert dienten die wiederhergestellten historischen Ensembles der Identitätsstiftung für eine verspätete Nation, bald schon der touristischen Vermarktung.

Steinfelds Bemerkung, Italien sei in weiten Teilen „zur Marke geworden“, mag man für maliziös halten. Aber dieser Reisende will nicht besserwisserisch entlarven, sondern gerade an den alltäglich erlebbaren Ungleichzeitigkeiten und Paradoxien verständlich machen, wie dieses Land mit seinen Krisen und Konflikten aus seiner historischen Entwicklung zu begreifen ist. In deren Verlauf wurden viele vormoderne Strukturen in die Modernisierung integriert und blieben bis heute in gewandelter Form erhalten. Das gilt für die bizarren Ausformungen neapolitanischer Volksfrömmigkeit (bei gleichzeitig grassierender Gewalt) ebenso wie für die vielen Spielarten des Klientelismus, die Steinfeld als Alltagssoziologe noch in den beiläufigsten sozialen Gesten aufzuspüren versteht.

Ein ungemein informatives Italienbuch also – auch wenn es wegen der Corona-Pandemie, wenigstens vorübergehend, wie aus der Zeit gefallen erscheint. Niemand kann bisher absehen, wann und wie das Land sich erholen wird. Aber, auch davon weiß Steinfeld zu berichten: Man hat in Italien gelernt, aus Durcheinander und Rückschlägen Resilienz wachsen zu lassen. Manchmal mögen deren Manifestationen vom Fatalismus nicht weit entfernt sein. Vielleicht sind sie aber auch Teil dessen, was die Besucher aus dem Norden an diesem Land schätzen.