Eigentlich sollte das Tschechow-Stück im Frühjahr rauskommen. Dann kam Corona. Nun ist am 20. August Premiere im Kleinen Haus. Die Pandemie hat die Perspektive verändert.
DARMSTADT. Olga, Mascha und Irina, die Töchter des verstorbenen Brigadegenerals, hängen seit elf Jahren fest in der Provinz. „Nach Moskau“, seufzen sie. Das wär’s. Doch über vier Akte hinweg kommen sie in Anton Tschechows Stück „Drei Schwestern“ einfach nicht vom Fleck.
Ach, ja, diese schwermütigen Russen der Jahrhundertwende, gelähmt von der eigenen Sehnsucht, so kennt man sie. Doch Regisseurin Katrin Plötner steht im Staatstheater Darmstadt der Sinn nicht nach „Melancholie und russischer Seele“, nach dem Klischee von Birkenwäldchen und dampfendem Samowar. Der Regisseur und Theaterlehrer Konstantin Stanislawski habe dieses sentimentale Bild geprägt, in Tschechows Sinn sei es nicht gewesen, sagt Plötner. Schließlich habe der Autor seine Stücke durchaus als Komödien verstanden, und so will sie die Geschichte auch zeigen. Das sagte sie beim ersten Vorgespräch im März. Dann kam der Kultur-Lockdown – zwei Wochen vor der Premiere.
Fünf Monate später sagt Plötner beim Nachgespräch zum Vorgespräch: „Die Grundkonzeption ist noch ähnlich, aber wir haben viel verdichtet.“ Statt mit Pause knapp drei Stunden soll es bei der Premiere am Donnerstag, 20. August, nun knapp anderthalb Stunden ohne Pause dauern. Das kommt der Regisseurin durchaus zupass.
„Das Stück verleitet ja zu einer wahnsinnigen Breite. Dabei muss der Text wie auf einer Hochspannungsleitung laufen. Die Figuren müssen sich ja die ganze Zeit vom Handeln abhalten.“ Keine Zeit also für ein gemütliches Tässchen Tee aus dem Samowar.
Tschechow schickt fast ein Dutzend Figuren auf die Bühne. Die Corona-kompatibel gestraffte Fassung stärkt nun die drei Titelfiguren Olga, Mascha und Irina (Antonia Labs, Marielle Layher, Edda Wiersch). „Sie sind am glimpflichsten weggekommen“, sagt die Regisseurin. „Ihnen habe ich weniger Text weggenommen.“
Gespielt wird in einem großen gelben Raum, über dem ein Spiegel zur Selbstbespiegelung hängt. Hier sollen die Kostüme von Johanna Hlawica kräftige Akzente in Blau, Violett, Pink und Gelb setzen. Die vermeintlich feschen Militärs, die das Bild in der Garnisonsstadt prägen, stecken in Blousons, erinnern mit ihren Sport-Uniformen eher an Leistungssportler von heute, sagt die Regisseurin.
Die Ausstattung entstand vor der Pandemie. Gar nicht so einfach, in dieser Weite nun Intimität herzustellen. Aber so schlecht findet die Regisseurin das auch wieder nicht. „Man muss fantasiereicher werden. Ein Kuss – und dann ist es gut. Das geht eben nicht.“ Und das könne auch ein Gewinn sein.
Beim ersten Gespräch im März wurde klar, wie Katrin Plötner dieses Stück aus dem Russland von gestern in die Gegenwart weiterdenkt: Fehlt es unserer Gesellschaft nicht auch an Utopien? Müsste sich nicht etwas tun, angesichts von Globalisierung, Migration Klimawandel? Bei Tschechow haben sie sich alle verschanzt in ihrem Unglück. „Es ist eine Gesellschaft, die einen gewissen Status hat. Sie schottet sich ab“, analysiert die Regisseurin. „Will man wirklich nach Moskau? Haben sie hier nicht doch ein ganz schönes Leben? Es ist eine Abschottung gegen Veränderung. Vielleicht wünschen sie sich eine Form von Utopie, so ein inneres Moskau. Aber wie soll das gehen? Diese Menschen sind zwar wahnsinnig unzufrieden, wissen aber nicht, wie sie das in Taten umsetzen sollen. Der utopische Funke springt einfach nicht über.“ Das war der Stand vor Corona.
Im August ist Katrin Plötner, die eigentlich ein Herz für düstere Aussichten hat, nun etwas milder gestimmt. Müssen die drei Schwestern denn ewig verharren, nehmen sie sich vielleicht sogar das Leben? So trübe wird Tschechow ja oft gedeutet. „Jetzt war es mir doch wichtig, dass es so einen schmalen positiven Streifen gibt“, sagt Katrin Plötner. Die Pandemie hat die Perspektive verändert. „Es ist ja derzeit alles so fatal. Da muss man nicht noch draufhauen.“