Die Gastronomie im ehemaligen Dillkreis hat nicht erst seit Corona zu kämpfen. Gleichwohl gibt es Erfolgsrezepte, aber nun droht die nächste Krise.
Von Frank Rademacher
Redakteur Dillenburg
"Zum Obertor" - früher eine der klassischen Eckkneipen. Die Gastwirtschaft am Eingang zur Dillenburger Innenstadt ist - wie viele andere früher florierende Kneipen - schon seit längerer Zeit geschlossen. Foto: Christoph Weber
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DILLENBURG - Erst Corona und jetzt auch noch Putins Krieg und seine Folgen - kaum eine Branche ist von den aktuellen Krisen so hart getroffen worden wie die Gastronomie. Das Sterben der Landgasthäuser und Kneipen hat aber schon sehr viel früher begonnen. Julius Wagner vom Deutschen Hotel- und Gastronomieverband (Dehoga) in Hessen ist mit den Ursachen und Hintergründen vertraut.
An die Zeiten, in denen die Menschen in einem Dorf wie Oberscheld die Auswahl zwischen 18 verschiedenen Kneipen hatten, können sich nur noch die Älteren erinnern. Für den Niedergang der Kneipenkultur gibt es verschiedene Gründe, wie Wagner erklärt.
"Es gibt bei der jüngeren Generation ein völlig verändertes Ausgehverhalten", sagt Wagner und nennt ein Beispiel: "Die jungen Leute gehen heute eher in eine Bar." Mit den gleichen Schwierigkeiten hätten deshalb auch die Musikclubs zu kämpfen.
"Zum Obertor" - früher eine der klassischen Eckkneipen. Die Gastwirtschaft am Eingang zur Dillenburger Innenstadt ist - wie viele andere früher florierende Kneipen - schon seit längerer Zeit geschlossen. Foto: Christoph Weber
Hat sich gehalten: Die direkt an der Bundesstraße gelegene "Bauernstube" in Wissenbach gehört zu den Gasthäusern, die auch die Corona-Pandemie überstanden haben. Foto: Frank Rademacher
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"Homedrinking is killing the Gastwirt"
"Homedrinking is killing the Gastwirt" ("Zuhausetrinken tötet den Gastwirt"), laute schon länger eine Mahnung der Branche. "Das breitere TV-Angebot und das Internet sind ein Dolchstoß für die Kneipen gewesen", weist Wagner auf die Folgen der medialen Konkurrenz hin. Die Kneipe sei heute nicht mehr die Kontaktplattform wie in früheren Zeiten.
Dazu kommt ein Druck von einer anderen Seite: 1960 ging noch 40 Prozent des Brauereiausstoßes in die Gastronomie. 1984 waren es nur noch 30 Prozent, obwohl sich der Bierkonsum im gleichen Zeitraum nahezu verdoppelt hatte.
Mit dem Aufkommen der Getränkemärkte hat sich diese Verlagerung noch einmal verstärkt. Dazu kommen die vielen Vereinssportheime, die eine weitere Konkurrenz zu den Kneipen bilden.
AUSGEZEICHNET
Um den Stellenwert der Gasthäuser für die Gesellschaft zu betonen und innovative und erfolgreiche Projekte zu fördern, hatte das Land Hessen zusammen mit dem Hotel- und Gaststättenverband einen Wettbewerb veranstaltet.
Zu den 50 "besten Dorfgasthäusern Hessens" gehört auch das "BeZett" in Sinn.
Hohe Mindestabnahme-Vorgaben machen Leben schwer
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Und während der Verkaufspreis im Getränkegroßmarkt zum Teil unter dem Einkaufspreis für die Wirte lag, wurde denen das Leben mit hohen Mindestabnahme-Vorgaben das Leben zusätzlich schwer gemacht. Die klassische Eckkneipe sei deshalb inzwischen eine Nische. Die zudem nicht die attraktivsten Arbeitsbedingungen bietet. "Die Leute sagen 'ich geh zum Müller' und dann wollen sie ihn auch sehen", verweist Wagner auf die hohe zeitliche Belastung für die Kneipenwirte hin.
Das Kneipensterben ist keineswegs ein Problem ländlicher Regionen, wie das Beispiel der Stadt Hamburg zeigt. Dort machten zwischen 2001 und 2011 nahezu die Hälfte aller Kneipen dicht.
Etwas anders stellt sich die Situation der Gasthäuser dar. Aber auch deren Zahl hat sich in den vergangenen zwölf Jahren mehr als halbiert. Und auch sie haben seit Jahren mit Konkurrenz zu kämpfen, die allerdings weniger aus Fernsehen und Internet besteht.
Seit den späten 70er-Jahren sei der Bau von kommunalen Gemeinschaftseinrichtungen stark gefördert worden. Feiern würden jetzt im DGH stattfinden - und DGH stehe nicht mehr für Dorfgasthaus, sondern für Dorfgemeinschaftshaus, erklärt Julius Wagner.
Die Investitionskraft der Gastwirte sei immer schon niedrig gewesen, woraus vielerorts ein Investitionsstau entstanden sei. Und der werde durch hohe bürokratische Belastungen noch verstärkt. Besonders prekär sei die Situation etwa durch die Brandschutzauflagen, wenn in einer Lokalität der Bestandsschutz wegfalle.
"Die 200 000 Euro muss jemand erst einmal haben", sagt Wagner oder mit einem guten und Erfolg versprechenden Betriebskonzept von der Bank als Darlehen bekommen. Und 200 000 Euro reichen mittlerweile häufig nicht aus.
Nur weil ein Teil der Arbeiten von Mitarbeitern des Bauhofs übernommen wurden, kostete die Sanierung der gemeindeeigenen Gaststätte am Hammerweiher die Gemeinde Dietzhölztal rund 300 000 Euro. Bei der angedachten Sanierung der Stadthalle Haiger werden die Investitionskosten für die Gastronomie gar mit 2,7 Millionen Euro kalkuliert.
Licht am Ende des Tunnels
Trotzdem sieht Julius Wagner Licht am Ende des Tunnels. Nachdem in den vergangenen Jahren viele Gasthäuser geschlossen worden seien, habe dieser Verlust nun auch bei der Politik zu einem Umdenken geführt. Zugleich könne man feststellen, dass die Lust bei den jungen Gastwirten, aufs Land zu gehen, wieder zunehme. "Die Welle schwappt zurück", erklärt Wagner.
Und die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen haben zwar einerseits die wirtschaftlichen Schwierigkeiten vieler Wirte noch verschärft, zugleich aber das Bedürfnis der Kunden, in Gesellschaft essen zu gehen, wachsen lassen.
Um erfolgreich zu sein, müssen aus Wagners Sicht Gastwirte vor allem drei Bedingungen erfüllen: Die Qualität und zugleich das Preis-Leistungs-Verhältnis müssen stimmen. Und dass Qualität ihren Preis habe, werde mittlerweile verstanden. "Wir haben aktuell auch eine hohe Akzeptanz, wenn jemand nur an vier Tagen geöffnet hat. Hauptsache, dass er überhaupt da ist."
Wer noch nicht bekannt sei, müsse sich einen Ruf erarbeiten. Dabei spielten die sozialen Netzwerke und der Auftritt im Internet eine entscheidende Rolle, erklärt Wagner. Das sei freilich mit zusätzlichem Aufwand verbunden. Der Grundsatz, dass eine Gaststätte vom Ort alleine nicht leben könne, gelte auf dem Lande in besonderem Maße.
Und zum dritten müssten die Wirte mit der Zeit gehen, aktuelle Trends beachten. Kurz: offen sein für Dinge, die um sie herum passierten. Nicht mehr wegzudenken sei mittlerweile eine regionale Ausrichtung. Die schließe Kooperationen mit Metzgern oder Landwirten ein, mit denen man werben könne. Spezialangebote oder Koch-Events hätten sich schon in der Corona-Pandemie als Möglichkeit bewährt, die Kundenbindung zu erhalten.
Eingetrübt wird das Licht am Ende des Tunnels allerdings nicht nur vom vielerorts herrschenden Personalmangel, sondern auch von den aktuellen Entwicklungen durch Russlands Krieg gegen die Ukraine und dessen Folgen. Die explodierenden Preise für Lebensmittel könnten die Gastwirte gar nicht 1:1 an ihre Kunden weitergeben. Dazu kämen die steigenden Kosten für die Energie. "Eine echte Zwickmühle" aber werde daraus, weil die potenziellen Kunden gleichfalls mit den finanziellen Folgen zu kämpfen haben. Dann beantwortet unter Umständen das Schreiben mit der neuen Gas-Rechnung die Frage, ob am Sonntag im Gasthaus am Ort gegessen werden kann.
Dieser Artikel wurde ursprünglich am 06.08.2022 um 17:00 Uhr publiziert.