Stolpersteine erinnern in Haiger an ermordete Juden
Berta und Selma Hirsch gingen den gleichen Weg bis zur Ermordung im Vernichtungslager Sobibór. Ein Blick auf das Leben Haigerer Juden zwischen Reichspogromnacht und Verschleppung.
Gleich fünf von Gunter Demnig gesetzte "Stolpersteine" erinnern in Haiger in der Kreuzgasse 7 gegenüber des Steigplatzes an die Familie Hirsch. Foto: Christoph Weber
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Haiger (cw). In der Haigerer Kreuzgasse 7, in der Hauptstraße 25, in der Johann-Textor-Straße 7 und am Frigghof 5 erinnern jetzt vom Künstler Gunter Demnig verlegte "Stolpersteine" sowie eine Gedenktafel an jüdische Mitbürger, die im Zweiten Weltkrieg in Konzentrationslager deportiert und ermordet wurden. Jedes Opfer hat seine eigene Geschichte zwischen Reichspogromnacht und Verschleppung (Quelle: Stadt Haiger).
Familie Hirsch
Hugo Hirsch wurde am 1. Juli 1908 in Haiger geboren. In der Kreuzgasse 7 war sein Elternhaus. Hirsch war Sattler und Polsterer und hatte ein eigenes Geschäft. Im Juli 1934 heiratete er Adele Simon aus Ehringshausen. Sie hatten zwei in Haiger geborene Töchter: Renate (geb. 1935) und Mirjam (geb. 1937). Nach der Reichspogromnacht (9. November 1938) wurde Hugo Hirsch ins KZ Buchenwald verschleppt. Nach sieben Wochen wurde er Anfang Januar 1939 entlassen, durfte aber sein Geschäft nicht weiterführen. Um einer erneuten Verhaftung zu entgehen, floh er am 1. August 1939 nach England. Zwei Wochen später zog seine Gattin mit den Kindern in ihr Elternhaus nach Ehringshausen. Am 10. Juni 1942 wurde sie durch Ehringshausen zum Zug getrieben, der sie zuerst nach Frankfurt bringen sollte. Am nächsten Morgen wurden sie in das Vernichtungslager Sobibór (Polen) verschleppt. Dort wurden sie vergast.
Willi Hirsch wurde am 19. Juni 1913 in Haiger geboren. Er half seinem Bruder Hugo in der Werkstatt. Im Sommer 1937 emigrierte er nach Amsterdam. Im Juli 1942 heiratete er dort die ebenfalls nach Holland geflohene Ilse Kahn. Am 15. Juli folgten beide einem Aufruf zu einem Arbeitseinsatz im Deutschen Reich. Sie waren zwei von 1139 Häftlingen, die vom Sammellager Westerbork nach Auschwitz-Birkenau verschleppt und dort am 21. August 1942 ermordet wurden. Ilse Hirsch war nie in Haiger. Deshalb wurde für sie kein "Stolperstein" gesetzt.
EINE BOTSCHAFT VON SELMA HIRSCHS ENKELSOHN RONALD VOLK
Die Johann-Textor-Lehrerin Martina Stettner hat im Rahmen der Präsentation der Gedenktafel am Frigghof 5 einen Brief von Selma Hirschs Enkel Ronald Volk vorgelesen. Dieser entdeckte im New Yorker Leo-Baeck-Institut die Schülerarbeit aus dem Jahr 1996, die in dem Institut als Broschüre "Das Schicksal der Haigerer Juden" lag.
"Es ist nur eine Sache, die ich zur Verlegung der Stolpersteine, oder für meine Familie die Anbringung der Tafel an der Hauswand am Frigghof mitteilen möchte: Meine Familie war sehr stolz, deutsch zu sein. Meine Familie kämpfte für Deutschland in dem französisch-preußischen Krieg 1870/71. Sie kämpften und manche starben im Ersten WeltkriegSie liebten Deutschland und hätten es nie verlassen, wenn die Nazis sie nicht gezwungen hätten, zu fliehen, um ihr Leben zu retten."
Weiter heißt es: "Die Juden waren gute Bürger und halfen Deutschland durch die Jahrhunderte hindurch, in denen sie in Deutschland lebten. Es gibt nur noch wenige von denen, die den Holocaust überlebt haben. Auch fast alle 'Übeltäter' sind nicht mehr am Leben. Es gibt keine Schuld für die einzelnen Deutschen heute oder für die, die in der nationalsozialistischen Zeit geboren wurden. Jedoch haben die heutigen Deutschen und das heutige Deutschland eine moralische Pflicht, daran zu erinnern, was geschah. Sie müssen dafür sorgen, für die Wahrheit einzustehen gegenüber denen, die den Holocaust leugnen oder Falschaussagen darüber machen. Sie müssen sicherstellen, dass sie alles, was sie können, auch tun, damit eine solche Tragödie nicht noch einmal in Deutschland oder irgendwo auf der Welt geschieht. Ronald Volk, im Mai 2020."
Irma Strauß
Die Tochter von Hermann und Gidda Strauß, die in der Hauptstraße 25 ein Manufakturwaren- und Lebensmittelgeschäft hatten, wurde am 29. August 1913 in Haiger geboren. Sowohl ihre zwei älteren Schwestern (1934 und 1936) als auch ihre Eltern (1938) emigrierten nach Amerika. Da Irma Strauß eine geistige Behinderung hatte, erhielt sie kein Visum. Sie musste in Frankfurt in einem Ghettohaus leben. Sie wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und im Alter von 29 Jahren ermordet.
Jettchen Bornheim
Die Schwester von Hermann Strauß war Witwe und lebte von 1931 bis 1938 in Haiger. Im Juni 1938 zog Jettchen Bornheim in ein Altenheim in Frankfurt, nur zehn Gehminuten von ihrer Nichte entfernt. Am 18. August 1942 wurde sie in das Ghetto Theresienstadt verschleppt. Am 23. September 1942 wurde sie in das Vernichtungslager Treblinka verlegt, in dem sie im Alter von 72 Jahren ermordet wurde.
Isaak Löwenstein wurde 1875 in Langendernbach geboren, seine Frau Gertrud 1882 im bayerischen Burgpreppach. Er war Viehhändler und in der letzten Zeit des Bestehens der jüdischen Gemeinde ihr Vorsteher. Die beiden Kinder Herbert und Gisela emigrierten Anfang 1938 nach Amerika, der älteste Sohn Norbert wollte im Sommer 1938 folgen. Doch am 9. November 1938 war er immer noch in Haiger. Er wurde ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt, war drei Wochen dort. Auch die Eltern, deren Haus im Dezember 1938 versteigert worden war, wollten von Holland aus nach Amerika auswandern. Anstatt auszuwandern, lebten sie dort dreieinhalb Jahre lang. Am 28. November 1942 kamen sie in das Durchgangslager Westerbork, von wo aus sie am 9. Februar 1943 nach Auschwitz-Birkenau verschleppt wurden. Dort lebten sie nur noch drei Tage.
Familie Siegmund
Selma und Berta Siegmund sind in ihren letzten Lebensjahren einen fast identischen Weg gegangen. Am 17. April 1904 bzw. am 7. April 1905 geboren, haben beide Schneiderin gelernt und als Kindermädchen in Frankfurt gearbeitet. Selma Siegmund hat 1932 Fritz Levi geheiratet und ist zu ihm nach Herborn gezogen. Ein Jahr später heiratete Berta Siegmund Alfred Rosenberg und zog in sein Elternhaus nach Herborn. Beide Geschwister hatten zwei Kinder. Ihre Männer wurden nach der Reichspogromnacht in das KZ Buchenwald verschleppt. Beide Ehepaare schickten nach der Rückkehr der Männer ihre Kinder nach England, das sich bereit erklärt hatte, 10 000 Kinder aufzunehmen. Auch die Ehemänner flohen nach England, Selmas Mann wanderte 1940 nach Amerika aus. Die beiden Schwestern lebten bis zum 10. Juni 1942 im Ghettohaus in Herborn, wurden dann am 10. Juni 1942 nach Frankfurt gebracht und von dort mit 1251 weiteren Juden im Viehwaggon des Zuges Nummer I/5 ins Vernichtungslager Sobibór in Polen gebracht, wo sie vermutlich noch am gleichen oder am nächsten Tag ermordet wurden.
Wilhelm Siegmund wurde am 20. August 1914 in Haiger geboren. Der gelernte Schneider zog 1937 nach Frankfurt, wo zwei Brüder seines Vaters lebten. Er wurde für drei Monate ins KZ Dachau deportiert. Nach seiner Entlassung ist er nach einem Kurzbesuch bei seinen beiden Schwestern in Herborn nach England geflohen, wo er 1979 starb. Von dort aus besuchte er seinen Geburtsort Haiger regelmäßig.
Dieser Artikel wurde ursprünglich am 22.06.2020 um 12:33 Uhr publiziert.