In Gießen sind erneut weniger Menschen in Stadt und Landkreis überschuldet, die Zahlen seien aber trügerisch. Die Folgen der aktuellen Belastungen könnten zeitverzögert auftreten.
Gießen. Die Preise kannten 2022 nur eine Richtung: rasant nach oben. Natürlich haben auch den Menschen in der Region die Folgen von Ukraine-Krieg, Energieengpässen und hoher Inflation zu schaffen gemacht. Gerade diejenigen, die ohnehin jeden Cent zweimal umdrehen müssen, dürften die zusätzlichen Belastungen besonders spüren. Und so überrascht es nicht, dass die Schuldnerberatung der Caritas Gießen aufgrund von Miet- und Energieschulden im vergangenen Jahr eine „erhöhte Nachfrage” verzeichnet hat. Zudem haben nochmals mehr Verbraucher Insolvenz beantragt. Auf den ersten Blick erstaunlich ist indes, dass erneut weniger Privatpersonen in Stadt und Landkreis Gießen als überschuldet gelten, wie die Wirtschaftsauskunftei „Creditreform” ermittelt hat. „Doch die guten Zahlen sind trügerisch”, warnt Geschäftsführer Jan-Frieder Hain.
Arbeitslosigkeit, Trennung, Scheidung, der Tod eines Partners, Erkrankung, Sucht, eine »unwirtschaftliche Haushaltsführung« oder ein längerfristiges Niedrigeinkommen sind noch immer die Klassiker, die entscheidend dazu beitragen, in die Verschuldung abzurutschen. Bei jungen Leuten sei der Auslöser häufig der „unsachgemäße Umgang mit Handyverträgen und Onlinekäufen”, berichtet Taraneh Ghasemi, Bereichsleitung Beratung und Soziale Dienste beim Caritasverband, auf Anfrage des Anzeigers. Die dauerhaft angespannte Lage, die ja nicht erst mit dem russischen Überfall, sondern bereits mit der Corona-Pandemie ihren Anfang genommen hat, wirkt sich gewiss verschärfend aus. Wenn die Einkünfte dann nicht mehr ausreichen, Rechnungen oder regelmäßige Raten zu begleichen, die Verbindlichkeiten somit das vorhandene Vermögen übersteigen, wird es problematisch. »Bei vielen Menschen, die sich bei uns melden, herrscht eine unglaubliche Panik, weil sie nicht mehr wissen, wie sie alles bezahlen sollen«, schildert Schuldnerberaterin Tatjana Krug aus ihrem Alltag.
Als auffällig bezeichnen Ghasemi und Krug, dass die Zahl der Älteren, die sich an die Caritas wenden, deutlich gestiegen sei und sich nahezu verdoppelt habe. Der Anteil der 50- bis 60-Jährigen liege nun bei 23 Prozent, derjenigen, die älter als 60 Jahre sind, bei 19 Prozent. Beobachten lasse sich ferner eine „starke Zunahme« von Klienten mit psychischen Erkrankungen, Post-Pandemie-Störungen und »zugespitzten Lebenskrisen”. Und es gebe vermehrt Anfragen von Migranten sowie von (Solo)-Selbständigen. 60 Prozent der Ratsuchenden verfügten nicht über einen Schulabschluss oder eine abgeschlossene Ausbildung, 85 Prozent seien arbeitslos gemeldet.
Auch die Anzahl der Gläubiger habe sich spürbar erhöht, ebenso die Verschuldungssumme. Bei 62 Prozent der Betroffenen geht es um Beträge zwischen 20 000 und 50 000 Euro. „Es gibt kaum noch Möglichkeiten, eine Schuldenregulierung in Form von Einzelvergleichen durchzuführen, die in Verbindung mit Raten- oder Einmalzahlung abgegolten werden”, verdeutlicht Ghasemi. Aufgrund rapide steigender Lebenshaltungskosten blieben nämlich keine finanziellen Reserven mehr, „um den Gläubigern Zahlungsangebote außerhalb eines Insolvenzverfahrens zu unterbreiten”. Und da ein Großteil der Ratsuchenden nur ein sehr geringes Einkommen habe, würden in der täglichen Praxis vorwiegend Insolvenzanträge gestellt.
331 Anträge auf Verbraucherinsolvenz im Jahr 2022 beim Amtsgericht Gießen
Beim Amtsgericht Gießen, dessen Zuständigkeit sich auf den kompletten Landkreis und den Amtsbezirk Alsfeld erstreckt, sind 2022 immerhin 331 Anträge auf Verbraucherinsolvenz eingereicht worden, geringfügig mehr als 2021, aber fast 200 mehr als noch 2020. Das hänge vor allem mit der im Oktober 2020 in Kraft getretenen Gesetzesänderung zusammen, wodurch die sogenannte Wohlverhaltensphase von sechs auf drei Jahre verkürzt worden war, erläutert Pressesprecherin Astrid Keßler-Bechtold. Das bedeutet: Wer insolvent ist, kann schneller von der „Restschuld” gegenüber Gläubigern befreit werden.
Bei den gewerblichen Insolvenzen ist ein vielleicht erwarteter Anstieg bisher nicht eingetreten; der Zuwachs von 178 auf 186 Anträge ist jedenfalls nicht signifikant. Etwas häufiger kam es wieder zu Zwangsversteigerungen - und zwar 81 Mal (2021: 70). »Als Ursache könnten die Zinsentwicklung und die hohe Inflation gesehen werden«, so die Juristin.
Dem steht gegenüber, dass die Zahl der überschuldeten Personen in der Stadt Gießen von 7129 auf 6952 gesunken ist, berichtet Jan-Frieder Hain. Orientiert an 76 750 Einwohnern über 18 Jahren entspricht das einer Quote von 9,06 Prozent (deutschlandweit: 8,48 %, hessenweit: 8,43 %); 2021 waren es noch 9,31 %. Nach Alter sind prozentual die 40- bis 49-Jährigen (15,93 %, 2021: 15,97 %) am stärksten belastet. Dahinter rangieren die 50- bis 59-Jährigen (12,47 %, 2021: 12,53 %), die 30- bis 39-Jährigen (12,09 %, 2021: 12,58 %) sowie die 60- bis 69-Jährigen (9,46 %, 2021: 10,02 %). Die Quote für die Über-70-Jährigen wird auf 4,83 % (4,65 %) beziffert, bei den Unter-30-Jährigen sind es 3,91 % (4,16 %). Bei fast allen Altersgruppen ist also ein Rückgang festzustellen, nicht aber bei den Personen, die älter als 70 Jahre sind. Obendrein konstatiert »Creditreform«, dass bundesweit das Minus bei den Älteren ab 60 Jahre schwächer ausfalle. „Die Zahlen zeigen, dass die deutsche Gesellschaft aktuell vor einer Zeitenwende bei der Überschuldung steht. Altersarmut und Altersüberschuldung gehen Hand in Hand”, lautet ein Befund.
Nur ein Gebiet im „grünen Bereich”
In Gießen ist der Postleitzahlen-Bezirk der Innenstadt (35390) mit 10,37 % (2021: 10,81 %) weiterhin negativer Spitzenreiter, gefolgt von Gießen-Nord und Wieseck (35396) mit 9,84 % (9,83 %) sowie Gießen-Ost, Wieseck und Rödgen (35394) mit 9 % (9,44 %). Etwas verbessert hat sich auch die Situation in Allendorf, Kleinlinden, Lützellinden und Gießen-West (35398) - von 9,04 auf 8,72 %. Mit Abstand am besten schneidet nach wie vor Gießen-Süd (35392) mit 6,32 % (6,36 %) ab, das sich als einziges Gebiet im „grünen Bereich” bewegt.
Seit Corona hätten sich die Überschuldungsfälle »in drastischem Tempo« reduziert, analysiert „Creditreform”. Denn krisenbedingt sei zumeist weniger Geld ausgegeben oder es seien Ersparnisse zur Schuldentilgung genutzt worden; auch die staatlichen Hilfen schützten viele Verbraucher. Doch die angehäuften Sparguthaben seien vielfach aufgebraucht oder würden von der Inflation „aufgefressen”. Und noch seien die wahren Belastungen wie eben die anhaltend hohe Inflation sowie die wachsenden Energiekosten »längst nicht vollständig beim Verbraucher angekommen«. Der „Nachzahlungsschock” drohe, eine Trendwende sei in den nächsten Monaten zu befürchten, weil die Folgen bei der Überschuldung zeitverzögert und mit Langzeitwirkung auftreten würden.
Im Landkreis Gießen sind 17 794 Personen überschuldet. Die Überschuldungsquote liegt - bei 228 250 volljährigen Einwohnern - bei 7,8 % gegenüber 8,12 % im Jahr 2021.
Unterteilt nach den einzelnen Kommunen ergeben sich folgende Werte (in Klammern von 2021): Biebertal 5,85 % (5,8 %), Wettenberg 6,29 % (6,89 %), Heuchelheim 6,11 % (6,9 %), Lollar 7,01 % (7,56 %), Staufenberg 5,99 % (6,42 %), Allendorf/Lumda 6,88 % (6,95 %), Buseck 7,2 % (7,12 %), Rabenau 6,73 % (6,93 %), Fernwald 6,03 % (6,18 %), Reiskirchen 7,7 % (7,9 %), Grünberg 7,56 % (7,91 %), Linden 8,15 % (8,55 %), Langgöns 6,99 % (7,23 %), Pohlheim 7,6 % (7,93 %), Lich 6,59 % (7,07 %), Hungen 8,74 % (9,16 %), Laubach 8,45 % (9,28 %). Und noch ein Blick in die Nachbarschaft: Lahn-Dill-Kreis 8,21 % (8,56 %), Marburg-Biedenkopf 6,79 % (7,19 %), Wetzlar 10,86 % (11,36 %), Marburg 6,17 % (6,67 %).
Von Benjamin Lemper