Die Gießener Aktivistin Vera Bonica will das Flüchtlingsthema wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken. Denn die Not gehe unter im Corona-Wirbel.
. Giessen. Am vergangenen Samstag waren Vera Bonica und ihre Mitstreiter von der Seebrücke auf der Straße. Eine Demo, "um wieder einmal eine Öffentlichkeit herzustellen, weil das Thema Flüchtlinge durch Corona völlig in den Hintergrund geraten ist".
Im Sommer 2019 war die Gießener Krankenschwester und Aktivistin auf dem Rettungsschiff "Alan Kurdi" im Mittelmeer unterwegs, im Sommer 2020 wird sie nicht unterwegs sein können. Die Grenzen sind dicht, aber die "Not der Menschen ist ja deshalb nicht verschwunden", sagt Bonica, die auch auf das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos verweist. Das nach der nahe gelegenen Gemeinde benannte Lager hat es mittlerweile zu einem langen "Wikipedia"-Eintrag und trauriger Berühmtheit gebracht, ist zum Symbol geworden für "ein Europa, das emotional und moralisch verwahrlost", wie Bonica sagt.
Dieser Einschätzung zu widersprechen, fehlen die Argumente. "Ärzte ohne Grenzen" forderten schon zu Beginn der Pandemie die sofortige Evakuierung Morias, wo bereits im Januar 2020 in dem für 3000 Menschen ausgelegten Gelände 19 000 Männer, Frauen und Kinder hausten und ein Wasserhahn auf 1300 Personen kommt. Gießen ist über die Seebrücke, jene im Sommer 2018 gegründete Initiative, mittlerweile ein sogenannter "Sicherer Hafen" geworden. Den Menschen in Moria hilft das wenig. Laut Bonica sind "150 Kommunen in Deutschland der Initiative gefolgt. Es freut mich, dass auch Frau Grabe-Bolz sich mit Gießen dazu bereit erklärt hat, aber passiert ist bisher nichts. Keine öffentliche Erklärung, kein Druck, keine Initiative, dabei haben wir hier doch genügend Platz."
Vera Bonica, die auf der "Alan Kurdi" mit dem Leid konfrontiert wurde, bringt dabei auch jene offenbar vergessene europäische Initiative ins Spiel, nach der 1600 Kinder von Lesbos evakuiert werden sollten. Am 6. April nahm Luxemburg 12 Kinder auf, bis dato 47 hat Deutschland ins Land gelassen. Das wesentlich kleinere und wirtschaftlich schwache Portugal will nun 500 holen. "Das ist für Deutschland und Europa beschämend", sagt Bonica. In Gießen sollte das Flüchtlingselend aufgrund der Erstaufnahmeeinrichtung allgegenwärtig sein, im öffentlichen Raum aber wird es nur präsent, wenn Aktivisten eine Matratze oder Bettlaken zweckentfremden, um sie mit Parolen zu versehen und aufzustellen. Oder eine Demo auf die Nöte hinweist. Von der Politik erwartet Bonica nicht mehr viel, "aber vielleicht von der Zivilgesellschaft, wenn die Krise vorbei ist". Solidarität ende nicht an Grenzen. Hofft sie.
Rüdiger Dittrich