Astrid Prinz lebt seit zehn Jahren mit ihrer Familie in der Nordstadt und mag die "positive Buntheit" im Viertel. Seit Anfang August ist sie Seelsorgerin der Thomaskirche.
. Giessen (mh). Astrid Prinz lebt seit zehn Jahren mit ihrer Familie in der Nordstadt, 200 Meter vom Zentrum der Thomasgemeinde entfernt. Ihre Kinder wurden hier getauft und besuchen die Kita und die Schule im Viertel. Seit Anfang August ist die 45-Jährige nun selbst Seelsorgerin der Thomaskirche und damit Pfarrerin der zu Beginn des Jahres gegründeten Evangelischen Gesamtkirchengemeinde Gießen Nord. Neben Thomas gehören die Paulusgemeinde in der Egerländer Straße und die Wiesecker Michaelsgemeinde dazu.
"Fast jeder Straßenzug hat sein eigenes soziales Gepräge", erzählt Prinz, die sich in der Nordstadt sehr wohl fühlt. Doppelhaushälften, Wohnblocks und Grünflächen wechseln sich ab. Menschen aus der gut situierten Mittelschicht leben mit Harz-IV-Empfängern in unmittelbarer Nachbarschaft zusammen. "Positive Buntheit" nennt die Pfarrerin diese offene und vielfältige Mischung. Doch die Kirche stellt die Verschiedenheit im Viertel vor die große Herausforderung, für Menschen mit unterschiedlichsten kulturellen Interessen attraktiv zu sein.
Das Gebiet der 1965 gegründeten Thomasgemeinde war zuvor steiniges, nicht besonders fruchtbares Ackerland. Sie wurde auf der Grenze zwischen der Kirchengemeinde Wieseck und der Paulusgemeinde gegründet. Zunächst war Thomas ein Bezirk der Wiesecker Gemeinde. Weil sich die Mitglieder jedoch als Gießener fühlten, erstritten sie ihre Selbstständigkeit und die Zugehörigkeit zum Kreis der städtischen Gemeinden. Das Gemeindezentrum liegt zurückgesetzt am Röderring. "Akademiker und Professoren haben das Erscheinungsbild der Thomasgemeinde stark geprägt", erzählt Astrid Prinz. Diese Zeit aber ist vorbei. "Die große Herausforderung ist es, jetzt herauszufinden, wer wir sind und wie wir in diesem gemischten Viertel anziehend sein und das Gemeinwesen fördern können." Geistliche Angebote, Gottesdienste und meditative Veranstaltungen sollen nach dem Wunsch der neuen Pfarrerin gleichberechtigt neben Gemeinwesenarbeit stehen.
Kirchlicher Sozialarbeit wurde in den letzten Jahren vorgeworfen, das Evangelium aus dem Blick zu verlieren und zum langfristigen Erhalt der Kirche nicht beizutragen. Vehement widerspricht Astrid Prinz: "Sozialdiakonische Arbeit ist zutiefst christlich, weil wir zu den Leuten gehen, die Unterstützung brauchen." Elf Jahre lang war die Pfarrerin an der Martin-Luther-Schule, einer Schule für psychisch kranke Kinder und Jugendliche in Buseck tätig. Auch dort hatten viele Familien wenig oder keinen Kontakt zur Kirche, ähnlich wie in der Nordstadt. Spirituelle Bedürfnisse, die Frage nach Gott in Lebenskrisen, in Not und Bedrängnis, seien unabhängig von der sozialen Herkunft.
Astrid Prinz ist in Frankfurt geboren. Nach dem Abitur arbeitete sie während eines freiwilligen sozialen Jahrs in einer diakonischen Einrichtung mit behinderten Menschen. Obwohl sie sich gut vorstellen konnte, Förderschullehrerin zu werden, entschied sie sich für das Theologie-Studium. "Ich wollte mehr über den Glauben wissen." Sie ist erst mit 17 Jahren getauft worden und erlebte Religion und Theologie noch spät als "Neuentdeckung". Die praktische Ausbildung zur Pfarrerin, das Vikariat, absolvierte sie in zwei kleinen Dörfern im Vogelsberg und während eines Aufenthaltes in Israel. In Treis übernahm sie ihre erste Pfarrstelle. "Schließlich habe ich mich nach drei Jahren entschieden, die Theologie mit meiner anderen alten Liebe, der Förderschule, zu verbinden und ging 2009 als Schulpfarrerin nach Buseck." Nun die Nordstadt. Ihre neue Tätigkeit steht unter zwei Vorzeichen: Den unter Corona eingeschränkten Möglichkeiten, gemeinschaftliches Leben zu gestalten, und die Bildung der Gesamtkirchengemeinde Gießen Nord. Als Team aus Pfarrerinnen und Kirchenvorständen habe man sich vorgenommen, an den drei Standorten jeweils eigene und typische Schwerpunkte zu setzen.
Die Schutzmaßnahmen gegen die Pandemie stellen das Gemeindeleben auf eine harte Probe. "Es tut mir in der Seele weh, was wir alles jetzt nicht dürfen." Geselligkeit, Nähe, intensive Gespräche und unbeschwerte Gottesdienstfeiern sind gerade ausgeschlossen.
Andererseits ist jetzt Zeit, herauszufinden, was in der kirchlichen Arbeit im 21. Jahrhundert wichtig bleibt und welchen Weg die Kirche in den nächsten Jahren einschlägt. Neues wird schon jetzt ausprobiert: Am 12. September werden die Konfirmanden mit halbjähriger Verspätung unter freiem Himmel in der Wieseckaue eingesegnet. Und Astrid Prinz denkt bereits an Weihnachten. Wegen der Abstandsregeln werden auch die Gottesdienste an Heilig Abend draußen gefeiert werden müssen. "Vielleicht entdecken wir ja dabei, wie schön es ist, eine Waldweihnacht zu feiern!"