Seit Jahren wird in Gießen über das Neubaugebiet "In der Roos" in Rödgen diskutiert. Nun will der Bauausschuss die Entwicklung vorerst stoppen.
GIESSEN. Im November 2019 scheint alles klar zu sein. Mit den Stimmen von SPD, Grünen und CDU fasst die Stadtverordnetenversammlung den Satzungsbeschluss zum Bebauungsplan "In der Roos". Nach jahrelanger Diskussion deutet sich ein Ende der Kontroverse um das Neubaugebiet an. Doch seit Dienstagabend gibt es eine neue Lage. Im Bauausschuss haben Grüne, SPD, "Gießener Linke" und Gigg+Volt beschlossen, die Umsetzung der geplanten Maßnahmen in dem Gebiet auszusetzen. Nur das Monitoring und Umsiedeln geschützter Tierarten - Stichwort: Wiesenknopf-Ameisenbläuling - sollen fortgesetzt werden. "Wenn inhaltlich neu über das Baugebiet zu entscheiden wäre, würde ich es ablehnen. Nun wollen wir aber den Ausgang des anhängigen Normenkontrollantrags abwarten", erklärte Michel Zörb von den Grünen das Verhalten der Koalition. Das Votum der Stadtverordneten steht noch aus.
"Erstmal geschockt"
Ausgangspunkt der Debatte war ein Antrag von Gigg+Volt. Darin argumentiert die Fraktionsgemeinschaft unter anderem, dass die Co2-Emissionen in den nächsten Jahren massiv sinken müssten, um die Erderwärmung zu beschränken. "Die vorliegenden Pläne zur Bebauung der Wiesenflächen, Gärten mit teils alten Baumbeständen und anderen Gehölzen, läuft diesen Zielen zuwider", argumentiert die Gemeinschaft. Sie verweist zudem auf den Normenkontrollantrag am Verwaltungsgerichtshof in Kassel. Mit ihm soll der städtische Bebauungsplan rechtlich überprüft werden. "Der Antrag könnte dazu führen, dass der Verwaltungsgerichtshof den Bebauungsplan für unwirksam erklärt. Wenn dies geschieht, dann müssten alle bereits umgesetzten Maßnahmen wieder rückgängig gemacht werden", meint die Fraktionsgemeinschaft. Dies sei nicht nur teuer, sondern auch nicht ohne Schaden an den ökologischen Funktionen des Bodens und der Biodiversität möglich. Eine andere Position vertrat Fraktionsvorsitzender Heiner Geißler von den Freien Wählern in der Debatte. Angesichts des Vorrangs der Innen- vor der Außenentwicklung sei die Situation in Rödgen problematisch. Denn sollte die "Roos" nicht entwickelt werden, bestehe die Gefahr, dass es im Stadtteil zu keiner weiteren Entwicklung kommt. Zudem gebe es Menschen, die darauf hofften, dass die Stadt in ihren Entscheidungen konstant bleibe. "Wir haben den Bebauungsplan mit den Stimmen von Rot und Grün seinerzeit genau so beschlossen. Und heute soll das nicht mehr gelten. Wenn wir jetzt auf den Ausgang der Kontrolle warten, kann sich die Entwicklung um Jahre verzögern", erklärt Bürgermeister Peter Neidel im Gespräch mit dieser Zeitung. Aus seiner Sicht hätten die ehemaligen Koalitionspartner nicht die Courage, zu ihrem damaligen Beschluss zu stehen oder dem Baugebiet eine gänzliche Absage zu erteilen. Neidel erinnert an die bereits geleistete Arbeit der Verwaltung und beispielsweise bei der Umsiedlung der geschützten Schmetterlinge. Aber alles werde nun auf unbestimmte Zeit verschoben. Mit Blick auf die Normenkontrolle sehe er sich auf der richtigen Seite. "Das war ein ordnungsgemäßes Bebauungsplanverfahren. Ich sehe keine Erfolgsaussichten für den Antrag." Persönlich sei er enttäuscht, weil er selbst viel Energie investiert habe, um Akzeptanz für das Baugebiet zu schaffen. Als Dezernent habe er das Projekt in einem "zerstrittenen Zustand" von Amtsvorgängerin Gerda Weigel-Greilich übernommen und mit Änderungen am Plan Kompromisse geschaffen.
"Ich war von dem Beschluss erstmal geschockt, weil man sich offensichtlich auf nichts mehr verlassen kann", führt Ortsvorsteherin Elke Victor von den Freien Wählen gegenüber dem Anzeiger aus. "Wir sind als Rödgener von Gerda Weigel-Greilich seinerzeit verpflichtet worden, genau diese Fläche als Baugebiet zu entwickeln, bevor wir andere Bereiche in Rödgen angehen können", erinnert Victor.
Erschließung im Winter
Dieser ursprüngliche Plan habe sogar angrenzende Gärten umfasst, was man letztlich habe abwenden können. "Wir haben uns bemüht, die Situation so harmonisch wie möglich zu lösen. Seit 2019 gibt es einen rechtskräftigen Beschluss, und es stellt sich die Frage, wie lange man ihn aussetzen kann", resümiert die Ortsvorsteherin. Der Bau der Erschließung des Gebiets hätte nach ihrer Auskunft im Winter 2021/2022 beginnen sollen.