Bürgerrechtler Rainer Eppelmann über Erfahrungen in der Diktatur

Rainer Eppelmann im Gespräch mit Behzad Borhani.  Foto: Leyendecker

"Wohin steuert unsere Demokratie?" Mit dieser Frage setzte sich der ehemalige DDR-Dissident Rainer Eppelmann bei einem Besuch in Gießen auseinander. In der Kulturkirche...

Anzeige

GIESSEN. Eine Woche vor der Bundestagswahl nutzte die Kulturkirche St. Thomas Morus die Gelegenheit, um den ehemaligen DDR-Dissidenten Rainer Eppelmann zu einem Vortrag über die Zukunft der Demokratie einzuladen. Der frühere Bundestagsabgeordnete war zur Wendezeit der erste und einzige Minister für Abrüstung und Verteidigung in der DDR. Nachdem er innerhalb der Diktatur Bekanntheit als Oppositioneller erlangt hatte, ist der evangelische Pfarrer seit 1998 Vorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Die von Behzad Borhani moderierte Veranstaltung begann mit einstündiger Verspätung,

Auf die Eingangsfrage, wohin seiner Meinung nach die Demokratie gehe, antwortete der Bürgerrechtler: "Ich muss Ihnen gestehen, ich habe keine Ahnung." Eppelmann betonte, dass es sein größter Wunsch sei, eines Tages den 93. Geburtstag zu feiern. Und warum ist das so? "Ich war 46 Jahre alt, als die DDR aufhörte zu existieren. Ich habe 46 Jahre in einer Diktatur gelebt. Wenn ich 93 bin, dann habe ich ein Jahr länger in einer Demokratie als in einer Diktatur gelebt".

An die NS-Zeit hatte der Bürgerrechtler Jahrgang 1943 zwar keine Erinnerung mehr, aber dafür "intensiv an die DDR". Es sei ein totaler Unterschied, ob das Volk in einer Demokratie leben dürfe oder in einer Diktatur leben müsse. "Ob Diktatur oder Demokratie ist eine Schicksalsfrage", betonte Eppelmann. Historisch holte der Dissident weit aus, erzählte von der Ansage Stalins an Ulbricht: "Es muss nur wie Demokratie aussehen, entscheiden tun aber wir".

Die SED seien immer die Bestimmenden gewesen, die Staatsführung ließ der Bevölkerung kaum eine Wahl. "Bei uns war alles besser, denn bei uns gab es ja keine Nazis, die waren im Westen. Zumindest wollte uns die Führung das glaubhaft machen", so Eppelmann. Gefragt, warum die Diktatur so viel schlimmer ist als die Demokratie, zögerte der Pfarrer kurz. "In der DDR sollten wir entwickelte, sozialistische Persönlichkeiten werden. Da passten keine Christen rein. Menschen, die nicht ins sozialistische Weltbild passten, waren ausgegrenzt".

Anzeige

Eppelmann erzählte von seinen Erinnerungen an den Volksaufstand 1953 und während der Wende 1989/1990. Als die Streiks am 17. Juni 1953 ausbrachen, welche laut DDR-Verfassung gestattet waren, schlug die Armee die Streiks nieder. "Wir dachten, dass die Panzer auf der Stalinallee ja schon nichts machen würden. Falsch gedacht, sie taten es." Am 17. Juni, so Eppelmann, schwand bei vielen in der DDR die Hoffnung an das System und an eine bessere Zukunft.

Auch der August 1961 blieb dem Oppositionellen in Erinnerung. "Da sind 10 000 an einem Tag von Ost nach West geflohen. Überlegen Sie sich das mal, in weniger als zwei Wochen wäre ganz Gießen leer", betonte Eppelmann. Er selbst habe ab dem Mauerbau begonnen, die DDR-Presse zu lesen, um zu verstehen, "was die da oben für Vorstellungen haben". Das hielt bis zum Wendejahr 1989 an. "Wir waren bei der Auszählung der Volkskammer im März dabei und haben mitgezählt. Oh Wunder, unsere Ergebnisse waren ganz anders als die der Wahlleitung", berichtete der Politiker. Kurz darauf habe die Gruppe um Eppelmann eine Anzeige gegen unbekannt wegen Wahlbetrugs gestellt und wurde prompt vom Leitenden Staatsanwalt Ost-Berlins zurechtgewiesen. "Wir hätten auch direkt die Staatsführung dafür kritisieren können, aber wir wollten ja nicht zu frech werden."

Borhani fragte abschließend, ob wir Deutschen aus der Geschichte gelernt hätten. "Wir haben heute gewaltige Unterschiede zu 1933. Die große Mehrheit will weiter die Demokratie". Den größten Unterschied sieht Eppelmann in der kulturellen Gegebenheit im Land. "Das vermischteste Volk in Europa, das sind wir. Das ist ein großer Kontrast zu Hitlers Rassenlehre und wir können stolz auf unsere Vielfalt sein". Vor allem die Rolle der Kirche sei in Diktaturen ein nicht zu unterschätzender Faktor. "Wir hatten durch Kirche unsere Stimme wiedergefunden. Das war eine Opposition, die nie verstummte".

Foto: Leyendecker