Der „Fall Ayleen“ macht eine der Schattenseiten sichtbar: Cybergrooming. Experte Thomas-Gabriel Rüdiger berichtet im Gespräch über Risiken und Hilfen.
Gießen/Waldsolms/Gottenheim. Das Ayleen-Verfahren hat ein Schlaglicht auf die Schattenseiten des Internets geworfen. Der Täter Jan P. hatte das Mädchen dort angeschrieben - und im Juli 2022 bei Langgöns getötet. Wie können Kinder im Netz geschützt werden? Der Cyberkriminologe Professor Thomas-Gabriel Rüdiger fordert die Vermittlung von Medienkompetenz ab der ersten Klasse und eine an den digitalen Raum angepasste Arbeit der Sicherheitsbehörden.
Herr Rüdiger, was ist Cybergrooming?
Cybergrooming bedeutet, dass eine Täterin oder ein Täter im Netz in irgendeiner Form Kontakt zu einem Kind aufnimmt und auf dieses einwirkt, um einen digitalen oder analogen sexuellen Missbrauch zu ermöglichen.
Ich erläutere das mal an einem Beispiel: Ein Mann geht auf einem Spielplatz zu einem Kind und sagt, er findet es toll und würde gerne mit ihm spielen. Am besten bei ihm zu Hause, weil er dort eine neue Spielekonsole stehen habe. Er macht dies aber nur in der Vorstellung, dadurch das Kind missbrauchen zu können. Würde dies online passieren, könnte dieses Ansprechen und Überreden des Kindes bereits als Cybergrooming definiert werden.
Und jetzt wird es verzwickt: Im physischen Raum, also auf dem Spielplatz, wäre ein solches Einwirken, also das Grooming, nicht per se strafbar. Das sehe ich kritisch.
Warum ist das so?
In Österreich wurde 2021 ein 57 Jahre alter Mann von einem Gericht verurteilt. Er hatte sich offenbar mithilfe von Deep-Fake-Technologien erfolgreich als 16-jähriges Mädchen ausgegeben. So soll er 600 Jungen dazu gebracht haben, sexuelle Handlungen vor der Kamera vorzunehmen. Ein 57-jähriger Mann hätte aber auf einem Spielplatz niemals an ein Kind herantreten und sagen können, er sei ein 16-jähriges Mädchen.
Ist das Netz ein Brandbeschleuniger für Menschen mit solchen Neigungen?
In meinen Augen kann man das bejahen. Im Netz vernetzen sich Täter und Täterinnen, und sie haben teilweise das Gefühl, es ist normal, was sie machen. Dabei kann es zu einer weiteren Senkung der Hemmschwelle kommen. Was Cybergrooming angeht, muss man aber auch sagen: Knapp die Hälfte der Tatverdächtigen in der Polizeilichen Kriminalstatistik sind Kinder und Jugendliche selbst. Wir haben junge Menschen seit fast zwei Generationen in einem digitalen Raum aufwachsen lassen, in dem Normüberschreitungen eine Art Normalität darstellen. Das spiegelt sich jetzt auch in den Zahlen minderjähriger Tatverdächtiger wider. Aus meiner Sicht hat sich die Situation in den letzten Jahren verschlechtert, weil ältere, aber auch gleichaltrige Täterinnen und Täter mit dem Smartphone teilweise rund um die Uhr Zugriff auf Kinder erhalten. Das gab es vor zehn Jahren in dieser Form nicht.
Wir haben junge Menschen seit fast zwei Generationen in einem digitalen Raum aufwachsen lassen, in dem Normüberschreitungen eine Art Normalität darstellen.

Gibt es einen Tätertypus?
Das eine Täterprofil gibt es nicht. Ich unterscheide im Netz zwei grobe Vorgehensweisen. Dem Intimitätstäter geht es um den Aufbau von Vertrauen und Emotionen zu einem Kind. Er will sich mit dem Kind treffen, um im physischen Raum eine Missbrauchsbeziehung über eine längere Zeit einzugehen. Diese Täter sind sehr selten und haben nur relativ wenige Opfer, weil sie viel Zeit investieren.
Und das zweite Profil?
Die meisten Täter gehören meiner Einschätzung nach zu den hypersexualisierten Tätern. Denen geht es darum, schnell sexualbasiertes Material von Kindern zu bekommen, um diese dann zu immer schwereren sexuellen Handlungen zu erpressen. Dies geschieht nicht selten über Drohungen, nach dem Motto „Ich tue deiner Familie etwas an, ich sende die Bilder deinen Eltern.“ Oder auch: „Ich biete dir Geld für Bilder.“ Dieser Typus schreibt massenhaft junge Menschen an. Dass es dann zu dreistelligen Opferzahlen kommt wie in dem Fall in Österreich, ist nicht untypisch.
Auf welchen Plattformen findet der Kontakt statt?
Cybergrooming kann überall dort stattfinden, wo eine onlinebasierte Kommunikation möglich ist - vor allem über soziale Medien und Online-Games, wobei letztere typischerweise eine Anbahnungsplattform sind. Denn Täter wollen Bilder und Videos, und die kann man dort meist nicht austauschen. Deshalb haben sie es auf die Handynummer abgesehen. Tendenziell werden Mädchen eher über soziale Medien, Jungs eher über Online-Games angesprochen.
Die Ansprache ist dann doch sicher eine andere.
Manche Kinder machen zum Beispiel ein Foto von sich und posten es öffentlich, was sie nicht machen sollten. Ein Klassiker ist dann die Behauptung, man sei Modelagent, von den Bildern begeistert und könne ihr zu einer großen Karriere verhelfen. Aber sie dürfe noch nichts ihren Eltern sagen. Danach läuft es oft so, dass der Täter sagt, wenn sie ihm bestimmte Dinge zuschicken, werde er den Rest der Dateien löschen, was er nicht macht.
Welche Kinder können ins Fadenkreuz geraten?
Jedes Kind, das im digitalen Raum unterwegs ist, kann auch angesprochen werden. Früher waren es vor allem 12- bis 13-Jährige, heute sind es bereits 8- bis 9-Jährige, die Opfer werden. 2022 hatten 20 Prozent der Kinder dieser Altersgruppe in einer Studie von Kontaktaufnahmen durch Erwachsene berichtet, die sich auch im physischen Raum mit ihnen treffen wollten. In den Anzeigen sind Mädchen überproportional vertreten. Aber das Dunkelfeld deutet darauf hin, dass es Jungs seltener zur Anzeige bringen. Alle Opfer sind unter 14 Jahren, weil es nur bis zu diesem Alter strafbar ist. Dies sehe ich aber sehr kritisch.
Warum?
Ich finde es schwierig, dass nur Kinder vor Cybergrooming strafrechtlich geschützt werden, nicht aber Jugendliche, obwohl die Studienlage zeigt, dass diese häufig damit konfrontiert werden. Wenn eine 14-Jährige von denselben Mechanismen Opfer geworden ist, ist es juristisch gesehen kein Cybergrooming.
Welche Möglichkeiten haben die Ermittler?
Cybergrooming ist eines der Phänomenfelder, in dem Sicherheitsbehörden Täter im Vorfeld herausziehen könnten. Das geht zum Beispiel über sogenannte Scheinkind-Operationen. Die Polizei gibt sich bei diesen als Kind aus und lässt sich passiv ansprechen. Meiner Einschätzung nach wird das Instrument aber nur sehr selten angewandt.
Die 16 Onlinewachen der Polizei ähneln eher digitalen Briefkästen. Eine kindgerechte Interaktion findet dort nicht statt.
Warum?
Meine Hypothese ist, dass es an der absoluten Gültigkeit des Legalitätsprinzips liegen könnte. Darunter versteht man die Anzeigepflicht bei jedem Verdacht einer Straftat. Vor allem seit der Einführung der Versuchsstrafbarkeit im Jahr 2021 kann ein strafbarer Anfangsverdacht bei Cybergrooming nicht nur bestehen, wenn es um sexualisierte Inhalte geht, sondern auch dann, wenn man sich über Belanglosigkeiten austauscht. Diese Situation könnte eine Konzentration auf die schweren Delikte erschweren. Nur knapp 5 Prozent der angezeigten Cybergrooming-Fälle basierten 2022 auf Scheinkindkonstellationen. Wenn die Sicherheitsbehörden dies aber flächendeckend und täglich machen würden, müssten wir meiner Einschätzung nach über immense Zahlen reden.
Welche Rolle könnte künstliche Intelligenz für die Ermittler spielen?
Ich denke, dass die KI in diesem Bereich viele Möglichkeiten bietet. Für eine Studie haben Wissenschaftler Bots (automatisierte Programme, Anm. der Red.) mit einer Sprach-KI ausgestattet, die sich dann als Kinder ausgegeben haben. Diese Bots haben das Kommunikationsverhalten mit Cybergroomern beobachtet. Auf diese Weise gab es eine dreistellige Zahl an Kontakten. Wenn Wissenschaftler solche Bots einsetzen können, wäre dies nicht auch eine Überlegung für Sicherheitsbehörden?
Was können Kinder und Jugendliche tun, wenn sie mit einer solchen Situation konfrontiert sind?
Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie ein Achtjähriger, der im digitalen Raum mit einer belastenden Situation oder einem Täter konfrontiert wurde, mit der Polizei online Kontakt aufnehmen und Hilfe finden kann?
Die polizeilichen Social-Media-Accounts haben nicht selten in ihren Beschreibungen, dass hier keine Anzeigen machbar sind und keine Nachrichten gelesen werden. Die 16 Onlinewachen der Polizei ähneln eher digitalen Briefkästen. Eine kindgerechte Interaktion findet dort nicht statt. Entsprechend schwer erscheint es für das Kind, hier Hilfe zu finden. Mein Wunsch ist deshalb eine zentrale Kinder-Onlinewache, die auf die Bedürfnisse der Kinder ausgerichtet ist und wo sie rund um die Uhr zum Beispiel über einen Alarm-Button Kontakt zu Polizei, Psychologen, Ärzten oder Juristen per Videochat aufnehmen können, die dann eventuell auch Beweise sichern und den Kindern zur Seite stehen können, wenn sie unter Druck gesetzt werden.
Wie wird der digitale Raum für Kinder sicherer?
Wie organisieren wir Prävention im Straßenverkehr? Eltern nehmen ihre Kinder an die Hand, machen wiederholt Ausflüge und sagen ihnen dabei: "Schau nach links, schau nach rechts, nutze als Fußgänger den Bürgersteig und steige nicht ins Auto von fremden Menschen ein." Doch auch die Eltern gehen bei Rot über die Ampel oder fahren zu schnell. Was hält sie eventuell davon ab? Wenn eine erkennbare Polizeistreife unterwegs ist. Im Netz fehlt dieser Mechanismus weitestgehend. Deshalb müssen wir die Konzepte der analogen Polizeiarbeit in den digitalen Raum spiegeln, sie ans Kommunikationsbedürfnis anpassen und realisieren, dass die Menschen mehr Zeit in der digitalen Welt verbringen als im Straßenverkehr.
Viele Eltern sind in dieser digitalen Welt aber nicht groß geworden.
Richtig, deswegen können sie dort ihre Kinder nicht an die Hand nehmen und kennen die digitalen Risiken nicht. Doch heute haben viele Kinder bereits ab der ersten oder zweiten Klasse ein Handy. Wenn ich meinem Kind nicht erklären möchte, dass es im Netz Leute gibt, die Nacktbilder von ihm wollen, dann ist es auch zu jung für ein Smartphone und den Zugang in einen globalen digitalen Kriminalitätsraum. Eltern können nun mal die Kinder nicht auf digitale Bürgersteige hinweisen.
Was ist mit Schulen?
In Deutschland gibt es noch immer nicht die flächendeckende und verpflichtende Vermittlung von Medienkompetenz ab der 1. Klasse. So etwas sollte es nicht nur deshalb geben, um Kinder zu schützen, sondern auch, um Kriminalprävention zu betreiben, weil mittlerweile bei digitalen Sexualdelikten immer mehr tatverdächtige Kinder und Jugendliche in Erscheinung treten. Es liegt also auch im Interesse der Kriminalpolitik, dass Kinder wissen, wie sie sich verhalten sollen, wenn sie mit einem Täter konfrontiert sind. Das heißt auch, dass wir Kinder und Jugendlichen erklären müssen, dass sie keine Nacktbilder von sich oder anderen anfertigen und weiterleiten dürfen.
Das klingt aber nach sehr dicken Brettern, die dort gebohrt werden müssen.
Ja, und ich finde es schade, dass erneut eine Generation heranwächst, für die Cybergrooming und sexuelle Belästigung ein normaler Bestandteil des digitalen Aufwachsens ist, und wir zu wenig Schutzmaßnahmen umsetzen, um diese Entwicklung abzuschwächen.
Das Interview führte Kays Al-Khanak.