"Die Kalten Ringe" und die Olympischen Spiele von Tokio

Bei den Sommerspielen 1964 in Tokio ging letztmals eine gesamtdeutsche Mannschaft an den Start . Foto: Archiv Christian von Berg

Der Dokumentarfilm "Die Kalten Ringe" widmet sich zwei deutschen Staaten, dem Kalten Krieg und den Olympischen Spielen 1964 in Tokio. Auch zur Gießener Region gibt es Bezüge.

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GIESSEN. Dass sich der Sport, zumal der internationale Spitzensport, immer in einem relevanten politischen Umfeld bewegt - und dass es deshalb eine Illusion ist, er könne unpolitisch sein -, wurde nun einmal mehr bei einer Veranstaltung deutlich, die sich der Teilnahme der deutschen Sportlerinnen und Sportler an den Olympischen Sommerspielen 1964 in Tokio widmete. Eingeladen hatte das Sportamt der Stadt Gießen gemeinsam mit dem Zentrum deutsche Sportgeschichte aus Berlin.

Faszinierend und skurril

"Wir waren wohl eine gesamtdeutsche Mannschaft, wir waren aber eine getrennte Mannschaft. Genauso hätten das Polen sein können oder was weiß ich." Mit diesen Worten von Karin Balzer, die 1964 in Tokio die Goldmedaille im 80-Meter-Hürdenlauf gewann, beginnt der Dokumentarfilm "Die Kalten Ringe", der im Mittelpunkt dieser äußerst informativen Veranstaltung stand. In rund 90 Minuten schildert er detailliert die Begleitumstände der Teilnahme von insgesamt 376 Sportlerinnen und Sportler aus der Bundesrepublik und der DDR, die in Japan in einer gesamtdeutschen Mannschaft an den Start gingen. Viele Zeitzeugen kommen zu Wort, die nicht nur den herausragenden Stellenwert Olympischer Spiele für einen Sportler unterstreichen, sondern auch die Faszination beschreiben, die damals von der Zehn-Millionen-Stadt Tokio mit ihren hochmodernen und vielfach wegweisenden Sportstätten ausging.

Gleichzeitig wirkt jedoch vieles, was in dem Film zur Sprache kommt, aus heutiger Sicht befremdlich oder auch skurril und lässt sich nur aus den besonderen Zeitumständen heraus verstehen. So reisten etwa beide Mannschaften in gesonderten Flügen an und wurden auch im Olympischen Dorf fein säuberlich voneinander getrennt, wobei die DDR-Funktionäre darauf achteten, dass möglichst keine Kontakte zu bundesdeutschen Sportlern entstanden. Im Grunde ein unhaltbarer Zustand für eine gemeinsame Mannschaft. Die deutsche Teilung, die mit der Gründung der Bundesrepublik und der DDR amtlich geworden war, hatte natürlich Auswirkungen auf den Sport. Das galt vor allem für die internationalen Sportbeziehungen, in denen sich beide deutsche Staaten oft in herzlicher Abneigung begegneten. Während die Bundesrepublik auf ihren Alleinvertretungsanspruch als einzig legitimer Repräsentant Deutschlands pochte, war der DDR vor allem daran gelegen, durch den Sport internationale Anerkennung zu gewinnen und gleichzeitig eine Überlegenheit des sozialistischen Systems zu demonstrieren. Der kürzlich verstorbene Willi Holdorf, der in Japan Gold im Zehnkampf gewann, sagt dazu in dem Film, wenn man die besten Krankenhäuser hat, interessiere das niemanden, hätte man aber die besten Sportler, so nehme die Welt dies wahr.

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Klima vergiftet

Das Internationale Olympische Komitee (IOC) konnte der Rivalität der beiden deutschen Staaten zunächst jedoch entgehen, da bei den Spielen 1952, an denen sich erstmals nach dem Krieg wieder deutsche Sportlerinnen und Sportler beteiligen durften, nur eine westdeutsche Mannschaft an den Start ging. Vier Jahre später hatte die DDR aber schon so weit an Boden gewonnen, dass das IOC nun auf eine gemeinsame Mannschaft drängte, deren Mitglieder sich in bilateralen Ausscheidungen qualifizieren sollten.

Ungeachtet aller Konflikte gab es fortan also eine gesamtdeutsche Olympiamannschaft, wobei sich die Situation im Vorfeld der Spiele von Tokio noch einmal zuspitzte, da der Bau der Berliner Mauer im August 1961 das Klima endgültig vergiftet und den innerdeutschen Sportverkehr zum Erliegen gebracht hatte. Politische Initiativen, Bemühungen des IOC und unzählige Sitzungen der Funktionäre aus Ost und West waren notwendig, um die Olympiaausscheidungen für die Spiele 1964 trotzdem auf den Weg zu bringen. Sie wurden verbissen geführt - sogar die Frage, ob das Team in Ost- oder Westware eingekleidet wird, war heiß umstritten - und endeten schließlich mit einer "Niederlage" der Bundesrepublik, denn erstmals hatten sich mehr Athleten aus der DDR für die gemeinsame Mannschaft qualifiziert, die damit auch den prestigeträchtigen "Chef de Mission" stellen durfte.

All das zeichnet der Film minutiös nach und so erfährt man, dass die Übertragung des Ausscheidungsspiels der Fußballer in Chemnitz im Westen zu einem mittleren Skandal führte, da neben dem Bild auch der Kommentar des Ostreporters, noch dazu ein SED-Mitglied, mitgeliefert wurde, dass die Leistungen der bundesdeutschen Turnerinnen im Vergleich zur hoch überlegenen DDR als "Hausfrauenturnen" eingestuft wurden, dass Sportlerinnen aus der DDR die Zeit, in der sie die Propagandasendung "Der schwarze Kanal" sehen sollten, gern zum Stricken nutzten oder dass die Eltern des beim Ausscheidungsrennen in Köln geflüchteten DDR-Bahnradfahrers Jürgen Kissner anschließend von den Behörden informiert wurden, ihrem Sohn sei schreckliches passiert. Ob er tot sei, hätten sie erschrocken gefragt. Nein, schlimmer noch, habe man ihnen geantwortet, er sei geflohen. Dass in einem solchen Klima aber auch Freundschaften entstanden, wie zwischen den Schwimmern Frank Wiegand aus Rostock und dem Darmstädter Hans-Joachim Klein, die gemeinsam in der Staffel Silber gewannen, grenzt schon fast an ein Wunder.

Überhaupt wird in den Statements der damaligen Sportler deutlich, dass sie oft die Letzten waren, die daran dachten, innerdeutsche Konflikte im Sport auszufechten. Interessanterweise hatten die damaligen Olympiaausscheidungen auch Bezug zum heimischen Raum, wie im zweiten Teil der Veranstaltung zu erfahren war, als die ehemaligen Radrennfahrer Burkhard Ebert und Günter Hoffmann sowie Dr. René Wiese vom Institut für Sportgeschichte zu einer Gesprächsrunde auf dem Podium Platz nahmen.

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In Gießen abgesetzt

Sie berichteten, dass 1964 das erste von zwei Ausscheidungsrennen für Tokio in der Nähe von Gießen stattgefunden hat. Start und Ziel befanden sich in Alten-Buseck und ein 26 Kilometer langer Rundkurs, der über Daubringen, Allendorf (Lumda), Beuern und Großen-Buseck führte, musste sieben Mal bewältigt werden. Je 20 Fahrer aus Ost und West waren am Start, zu denen allerdings Dieter Wiedemann aus Chemnitz schon nicht mehr gehörte. Noch vor dem Rennen hatte er sich - samt Rennrad und Sportkleidung, wie die Presse festhielt - aus einem Hotel am Gießener Bahnhof von der Mannschaft der DDR abgesetzt. Ebert, der die Bundesrepublik vertrat, und Hoffmann, der für die DDR an den Start ging, schafften es schließlich beide über Alten-Buseck bis nach Tokio. Medaillen konnten sie dort allerdings nicht gewinnen, denn auch bei den Radfahrern konnte man nicht von einer Mannschaft sprechen, wohl auch, weil gemeinsames Training "nicht erwünscht war", wie es damals seltsamerweise seitens der Funktionäre hieß.

Die deutschen Sportlerinnen und Sportler gewannen in Tokio 50 Medaillen, 31 die Bundesrepublik und 19 die DDR. Es war für lange Zeit der letzte gemeinsame Auftritt. Bei den Olympischen Spielen 1968 gab es erstmals zwei deutsche Mannschaften und erst nach der Wiedervereinigung starteten 1992 in Albertville und Barcelona wieder gesamtdeutsche Teams.

Übrigens: Eine gekürzte Fassung des Films "Die Kalten Ringe" ist auf der Internetseite www.daserste.de abrufbar. Sehenswert!