Eine Pantomime der Pandemie

Masken zu tragen ist mittlerweile eine Pflicht. Erwachsen wäre ein Befolgen der Regeln aus Einsicht in ihre Vernünftigkeit, schreibt Götz Eisenberg.  Foto: dpa
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Ein Corona-Tagebuch: Für Götz Eisenberg bieten die im Alltag verwendeten Masken kaum Schutz und dienen eher dem Selbstbetrug ihrer Träger.

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GIESSEN. Anfang der Woche fahre ich mit den Rad durchs Gießener Umland. In einem Waldstück scheucht ein Trainer auf dem Rad eine Jugendmannschaft vor sich her. Als er mich sieht, weist er sie an, in Reihe zu laufen und die Corona-Abstände einzuhalten. Zuvor waren sie in Gruppen getrabt, eng beieinander und miteinander redend. Vor der Schule in einem Dorf spielen Jungen Basketball. Wie soll man da Abstand halten? Wie lang haftet das Virus auf der Oberfläche des Balls? An der Lahn hat eine Gruppe junger Männer den Grill angeworfen. Einer von ihnen brüllt in den Lärm, der aus einer Bluetoothbox dringt: "Hoffentlich ist der Corona-Scheiß bald vorbei, damit wir uns nicht mehr hier verstecken müssen!"

Schneller als erwartet und erwünscht, kehrt die sogenannte Normalität wieder. Die Leute hören das Wort Lockerung, und schon lassen sie alle Vorsicht fahren. Verantwortungsbewusste Politiker und seriöse Virologen und Epidemiologen warnen, dass wir auf diese Weise womöglich alles aufs Spiel setzen und die Gefahr einer zweiten Infektionswelle heraufbeschwören. Zumal jetzt peu à peu auch die Schulen wieder geöffnet werden, wo Sicherheits- und Schutzmaßnahmen pure Augenwischerei sind. Von den Schulen aus könnte das Virus in die Familien getragen werden und sich unkontrollierbar verbreiten.

Die Masken, die parallel zur Aufhebung des Lockdown getragen werden sollen, suggerieren eine Sicherheit, die sie nicht bieten können. Sie sind ein Selbstbetrug. Wie ein Raucher, der denkt, E-Zigaretten würden ihn vor Krebs schützen. Viele benutzen OP-Masken, die zum einmaligen Gebrauch bestimmt sind, tagelang. Sie tragen sie unter dem Kinn mit sich herum und ziehen sie bei Bedarf über Mund und Nase. Die Masken wirken wie eine Pantomime der Pandemie. Wie Harald Schmidt, wenn er Michael Jacksons Hygienefimmel karikieren wollte und eine Hand vor den Mund legte.

Vielleicht wird es sich erweisen, dass man einen Ausnahmezustand nicht teilweise aufheben kann. Man nimmt auf diese Weise die Mindestspannung heraus, die aufrechterhalten bleiben muss, um die Leute zur Befolgung der Corona-Regeln zu motivieren. Trotz anderslautender Erklärungen von Seiten der Politik werden die partiellen Lockerungen von Vielen so gedeutet, als wäre der "Corona-Scheiß" vorüber.

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Das mag etwas mit der in dieser Kultur nur schwach ausgebildeten Fähigkeit zu tun haben, mit mehrdeutigen Situationen und Schwebezuständen umgehen zu können. Man möchte es eindeutig haben: Entweder ist etwas so, oder es ist eben so; entweder wir haben Corona, oder wir haben kein Corona. Dass etwas so und gleichzeitig auch anders sein kann, übersteigt die kognitiven und psychischen Fähigkeiten der meisten Leute. Mit Ambivalenzen leben und umgehen zu können, setzt die Entwicklung relativ reifer, dialektischer Ich-Funktionen voraus. Diese können sich lebensgeschichtlich nur unter Bedingungen ausbilden, die viele Menschen nicht angetroffen haben. Mehrdeutige Situationen in ihrer Mehrdeutigkeit prüfend belassen zu können, hat in Deutschland nie zu den öffentlich geförderten Eigenschaften gehört. Diese endemischen Defizite unserer Kultur könnten sich jetzt wieder einmal rächen. Die Leute gehorchen oder sie schlagen über die Stränge. Beides ist, psychisch gesehen, gleich infantil. Etwas Drittes, Erwachsenes kennen und können sie nicht. Das Dritte wäre ein Befolgen der Regeln aus Einsicht in ihre Vernünftigkeit.

Für jemand, der wie ich lange im Gefängnis gearbeitet hat, ist das Maskentragen im Alltag befremdlich. Früher hatten Leute, die ein Geschäft maskiert betraten, eindeutig kriminelle Absichten, und die Hände der Beschäftigten zuckten zum Alarmknopf. Wir erinnern uns an die unscharfen Bilder von Überwachungskameras, auf denen von schräg oben eine Gestalt mit verhülltem Gesicht zu erkennen war, die unter Vorhalten einer Waffe einen Kassierer zur Herausgabe von Geld zwang. Heute könnte ein Mann mit Sturmhaube eine Bank oder ein Juweliergeschäft betreten und würde kein Aufsehen erregen. Im Gegenteil: Ab jetzt wird sich derjenige verdächtig und strafbar machen, der keine Maske trägt und sein Gesicht offen präsentiert. Verkehrte Welt.

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Das komplette Corona-Tagebuch von Götz Eisenberg erscheint auf dem Blog von Konstantin Wecker: "Hinter den Schlagzeilen".Foto: Archiv