Erstaufnahme Gießen: Beuth sieht kaum Handlungsbedarf

Ein halbes Jahr nach dem Beginn unserer Berichterstattung über die Zunahme an Gewaltdelikten in der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes in der Rödgener Straße hat erstmals das hessische Innenministerium geantwortet, allerdings nicht auf unsere Fragen, sondern auf eine parlamentarische Anfrage der AfD-Landtagsfraktion.    Archivfoto: Friese
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Das Hessische Innenministerium beantwortet eine Anfrage der AfD-Landtagsfraktion über die Zustände in der Erstaufnahme für Flüchtlinge in Gießen - ein halbes Jahr, nachdem...

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GIESSEN. Zeitgleich mit dem Beginn unserer Berichterstattung über die sowohl durch interne Polizeiberichte als auch durch die Aussagen von fünf Polizisten bekannt gewordene drastisch gestiegene Kriminalität in der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen (EAEH) für Flüchtlinge hatte der Gießener Anzeiger im April auch einen Fragenkatalog an das hessische Innenministerium geschickt. Der blieb unbeantwortet. Reagiert wurde dagegen auf einen am 1. Juni im Ministerium eingegangenen Berichtsantrag der AfD-Landtagsfraktion, die ihrerseits 29 Fragen zur Lage in der EAEH formuliert hat. Diese Antworten liegen dem Anzeiger inzwischen vor.

Unter anderem wollte die AfD von Innenminister Peter Beuth wissen, wie viele der Flüchtlinge seit ihrer Einreise nach Deutschland strafrechtlich in Erscheinung getreten seien, wie viele der dort untergebrachten Flüchtlinge keine Bleibeperspektive hätten und wie viele Angehörige dieser Teilgruppe straffällig geworden seien. Laut Innenministerium seien im September 257 Bewohner der EAEH ausreisepflichtig gewesen. Zu deren Delinquenz gebe es jedoch "keine statistischen Angaben im Sinne dieser Fragestellung" - und eine nachträgliche Erfassung dieser Daten wäre mit einem "unvertretbar hohen Verwaltungsaufwand" verbunden.

Auf die Frage, wann aus Sicht der Landesregierung eine rechtlich gesicherte Rückführung der EAEH-Flüchtlinge ohne Bleibeperspektive möglich sei, betonte das Ministerium, dass dies vom Einzelfall abhänge, und listete alle Gründe auf, die einer Rückführung im Wege stehen können: vom Kirchenasyl bis hin zu fehlenden Reisedokumenten.

"2,5 Einsätze pro Tag"

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Gefragt nach der Entwicklung der Delikte im Zuständigkeitsbereich der Polizeistation Gießen-Nord bestätigte das Ministerium einen Anstieg im Bereich der EAEH: "Im vergangenen Jahr kam es durchschnittlich zu knapp 2,5 Einsätzen pro Tag." Als möglicher Grund wird vermutet: "Neben der gestiegenen Belegung des Standorts der EAEH in Gießen belasten die Corona-bedingten Einschränkungen wie beispielsweise die Einstellung von tagesstrukturierenden Angeboten innerhalb und außerhalb, die Einstellung von Freizeitangeboten, Schließungen im Einzelhandel und der Gastronomie sowie die eingeschränkten Sportmöglichkeiten" die Bewohner.

Einen Teil der Antwort offenbar vorausahnend, erkundigte sich die AfD-Fraktion weiter: "Falls die Landesregierung den sogenannten 'Corona-Frust' als Grund für einen Anstieg der Delikte sieht, wie erklärt die Landesregierung die Auswirkungen des 'Corona-Frusts' auf die Bewohner der EAEH, wenn nach Aussagen der fünf Polizeibeamten die Corona-Schutzmaßnahmen von den Bewohnern nicht eingehalten werden" und dieses Nichteinhalten als eine "typische Einsatzlage" beschrieben werde? Dem Ministerium zufolge werden "von der überwiegenden Mehrheit der Bewohner und Bewohnerinnen die vorgeschriebenen Maßnahmen eingehalten". Bei Verstößen würden Personen persönlich durch Mitarbeiter angesprochen, durch Dolmetscher und Aushänge in 15 Sprachen oder Piktogrammen informiert und auf die Corona-Warn-App des Bundes hingewiesen.

Auf die Frage, welche konkreten Maßnahmen oder Konzepte zur Prävention zukünftiger Straf- und Gewalttaten sowie Ordnungswidrigkeiten in der EAEH durchgeführt werden, heißt es: "Um die Situation speziell am Standort [...] Gießen zu verbessern, werden neben einer behördeninternen Prüfung einer Kräfteerhöhung zukünftig regelmäßige Fallkonferenzen abgehalten, um auch bereits bei niederschwelligen Delikten täterorientiert zu ermitteln. [...] Durch diesen flankierenden Ansatz soll mittels Identifizierung von Tätern, die für die überwiegende Anzahl der Einsätze durch ihr Verhalten ursächlich sind, die Einsatzbelastung für die örtlich zuständige Polizeistation Gießen-Nord reduziert [...] werden." Darüber hinaus wolle man präventive Schulungsveranstaltungen am Standort Gießen unter Beteiligung der Migrationsbeauftragten intensivieren.

Stetiger Anstieg

Auf die Frage, wie sich die Anzahl der Polizeieinsätze nach Notrufen aus der EAEH seit ihrer Inbetriebnahme 2015 bis einschließlich 31. März 2021 entwickelt habe, verweist das Ministerium "ohne Anspruch auf Vollständigkeit" auf 330 Einsätze im Jahr 2018 sowie 451 in 2019 und 905 im Jahr 2020. Im ersten Quartal des Jahres 2021 seien 290 weitere Einsätze hinzugekommen. Zwischen 2015 und 2017 sei die Zahl solcher Einsätze noch nicht erfasst worden.

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Ob die Landesregierung den aktuellen Personalbestand der Polizeistation Gießen-Nord mit 63 Beamten im Schichtdienst zuzüglich einer verstärkenden Streife für ausreichend hält, wollte die AfD ebenfalls wissen. Entgegnet wird, dass in Gießen-Nord alle verfügbaren Stellen besetzt seien. Bei "größeren Adhoc-Lagen" sei eine Unterstützung durch andere Dienststellen gewährleistet. Zudem werde Gießen-Nord seit Mai 2021 "tagsüber je nach Verfügbarkeit auf Anforderung" durch Bereitschaftspolizisten unterstützt.

Die Aussagen der fünf Polizisten im Anzeiger, dass man aufgrund der dauernden Einsätze in der EAEH wochenlang keine Präsenz im ländlichen Raum zeigen könne, wird in der von Innenminister Peter Beuth unterschriebenen Antwort zurückgewiesen. Die Zahlen der Bürgerbefragungen und der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) belegten, dass ein hohes Maß an Sicherheit für die im ländlichen Raum lebenden Bürgerinnen und Bürger durch die hessische Polizei garantiert werde. Die PKS weise seit 2015 einen stetigen Rückgang der Straftaten im Landkreis Gießen aus. Eine Befragung im Rahmen der Sicherheitsinitiative "Kompass" habe beispielsweise ergeben, dass sich in der Gemeinde Biebertal 95,3 Prozent der Befragten tagsüber und 82,1 Prozent nachts sicher fühlten.

Ebenfalls dementiert das Innenministerium die Aussagen der fünf Polizisten, dass sie zwar "regelmäßig beleidigt, beschimpft, bedroht und bespuckt", diese Delikte aber gar nicht mehr zur Anzeige gebracht würden, weil sonst "eine ganze Behörde allein damit beschäftigt" wäre. Dazu erklärte Beuth, dass Straftaten zum Nachteil von Polizeibeamten seitens des Regierungspräsidiums grundsätzlich nicht gemeldet würden, da diese Taten in der Regel als Antragsdelikte ausschließlich von den Geschädigten zur Anzeige gebracht werden könnten. Würden die Polizeibeamten Anzeige erstatten, würde diese auch wie eine reguläre Anzeige behandelt. Das Regierungspräsidium bringe jeden strafrechtlichen Sachverhalt zur Anzeige, der zu seinem Nachteil oder dem seiner Mitarbeiter bekannt würde.

Möglichkeiten des Absehens

Zudem seien auch die Staatsanwaltschaften gehalten, bei Straftaten zum Nachteil von Polizeibeamten, Rettungskräften, Amtsträgern und gleichgestellten Personen "von den Möglichkeiten des Absehens von der Strafverfolgung [...] zurückhaltend und nur in besonders zu begründenden Ausnahmefällen Gebrauch zu machen". Auf den Privatklageweg zu verweisen, komme in solchen Fällen regelmäßig nicht in Betracht.