Experten über "Strafen und Strafvollzug - früher und heute"

"Niemand möchte eine JVA vor der Tür haben", weiß Lars Streiberger.  Symbolfoto: Mosel/Archiv

Die beiden Experten Prof. Arthur Kreuzer und Lars Streiberger setzen sich auf Einladung des Vereins "Criminalium" in Gießen mit "Strafen und Strafvollzug - früher und heute"...

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GIESSEN. Von den Anwesenden im Saal der Petrusgemeinde hat bisher niemand Fjodor Dostojewskis "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus" gelesen. Im Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlichten Text verarbeitet der russische Schriftsteller seine Erfahrungen in einem Gefangenenlager - knapp anderthalb Jahrhunderte später dient das Werk als Aufhänger für einen Vortrag von Prof. Arthur Kreuzer über "Strafen und Strafvollzug - früher und heute" des Vereins "Criminalium", der durch einen Einblick in eine der hessischen Justizvollzugsanstalten von Lars Streiberger ergänzt wird.

Anhand von Dostojewskis Text zeigt Kreuzer "Kriminalwissenschaftliche Aspekte und heutiges Rechtsverständnis" auf, gibt historische Hintergründe und theoretische Überlegungen zum Strafvollzug. Für die noch relativ junge Disziplin der Haftforschung seien neben wissenschaftlichen Experimenten und Auswertungen von Akten auch Texte wie das "Totenhaus" relevant, erläutert der emeritierte Professor für Kriminologie und Strafrecht.

Wenn es um Haftforschung geht, seien Subkulturen auch immer ein zentraler Begriff - in jeder Art von Zwangsgesellschaften bildeten sich informelle Strukturen mit eigenen Regeln, eigenem Jargon. Subkulturen würden jedoch auch in anderen Einrichtungen wie Kasernen, Internaten, oder Pflegeheimen entstehen, wobei Faktoren wie Überbelegung "Gift" seien, und zu der Bildung solcher Strukturen beitrügen. Um dem gegenzusteuern, so Kreuzer, müsse neben größtmöglicher Transparenz auch die Resozialisierung der Inhaftierten unterstützt werden.

Während das im "Totenhaus" vorliegende Strafdenken, welches vor allem Vergeltung und Abschreckung zum Zweck hatte, den absoluten Straftheorien zuzuordnen sei, würden inzwischen eben auch Resozialisierung und eine "gerechte Antwort auf die Straftat" mit einbezogen. In Fällen wie aktuell dem der 96-jährigen ehemaligen KZ-Sekretärin gehe es daher nicht unbedingt vorrangig um eine Haftstrafe, sondern auch um Genugtuung und eine Symbolwirkung für die Opfer.

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Eine weitere, eher jüngere Entwicklung im Strafvollzug war die Abschaffung der Todesstrafe - das wichtigste Argument dagegen sei: "Sie funktioniert nicht!" Da man zudem oft nicht hundertprozentig die Schuld beweisen könne, müsse es bei reversiblen Strafen bleiben. Während es bei Dostojewski zudem noch zu Brandmarkungen kam, seien Körperstrafen und Folter hierzulande auch längst verboten, ebenso wurde die Aberkennung bürgerlicher Rechte abgeschafft. Prinzipiell müsse jeder Inhaftierte die Chance haben, wieder rauszukommen, verdeutlicht Arthur Kreuzer, der sich auch allgemein für Strategien zur Haftvermeidung ausspricht. Er möchte den Strafvollzug jedoch nicht komplett abschaffen, zumindest, solange es "nichts Besseres gibt". Kritisch sieht er momentan, dass der Reformeifer stocke und sich das "Sicherheitsdenken" durchsetze; man müsse mehr über Verbesserungen im Strafvollzug nachdenken.

Nach der literarisch-wissenschaftlichen Ebene berichtete Lars Streiberger, Leiter der JVA Hünfeld, aus den praktischen Erfahrungen, die er in der teilprivatisierten Einrichtung gemacht hat. Bei einem Bürgerentscheid vor dem Bau der 2006 eröffneten Haftanstalt sei nur knapp dafür gestimmt worden: "Jeder möchte, dass bestraft wird, aber niemand möchte eine JVA vor der Tür haben", beschreibt Streiberger das Dilemma

Mit den von Arthur Kreuzer vorher geschilderten Subkulturen hat er auch schon Erfahrungen gemacht, oftmals seien Verlegungen hier ein besonders effektives Mittel, um auch die soziale Sicherheit in der JVA zu gewährleisten. Zur Resozialisierung, eines der zentralen Ziele der Inhaftierung, gehöre auch, die Gefangenen durch "öffnende Maßnahmen" wieder an ein Leben in Freiheit zu gewöhnen. Damit sei jedoch auch immer ein Risiko verbunden, welches letztendlich Streiberger als Verantwortlicher trage. Unter Corona habe es freilich keine vollzugsöffnenden Maßnahmen gegeben; der Justizvollzug habe unter der Pandemie besonders gelitten, sowohl die Gefangenen als auch die Bediensteten. Das Besuchsverbot habe man durch erweiterte Telefonzeiten, verbessertes Essensangebot und Einzelsport zu kompensieren versucht, kann Streiberger berichten, dass die Maßnahmen akzeptiert wurden, und es sei auch in Hünfeld auch zu keinem größeren Ausbruch des Virus gekommen.

Für Institutionen und Vereine, die daran interessiert sind, die Arbeit und den Alltag in einer Haftanstalt zu erleben, sprach Lars Streiberger eine Einladung in die JVA Hünfeld aus, sobald derartige Besuche wieder möglich seien. Peter Gast, Vorstandsmitglied im "Criminalium", betonte, dass man solch ein Angebot unbedingt ergreifen solle, es komme nicht sehr oft. Fotos: Moor