Ein persönliches Corona-Tagebuch: Gesammelte Eindrücke aus dem Seltersweg, vom Lahnufer und von Gießens Hausberg.
. giessen. Es ist Mittwochnachmittag. Auf den ersten Blick hat sich nichts verändert. Vielleicht ist etwas weniger Verkehr auf den Straßen, und auf dem Seltersweg sind ein paar weniger Passanten unterwegs. Vor den Kneipen und Cafés sitzen junge Leute dicht gedrängt in der Nachmittagssonne und demonstrieren ihre Indifferenz gegenüber dem Virus und der von ihm ausgehenden Ansteckungsgefahr. Ein Mann kommentiert das mit den Worten: "Die dürfen sich nicht beschweren, wenn sie doch noch eine Ausgangssperre verhängen!" Ich beobachte eine Gruppe junger Männer, die einen Bierkasten aus einem Supermarkt schleppen und Richtung Lahn davonziehen. Mädchen stellen sich für ein Foto in Pose. Der Subtext dieser Handlungen lautet: "Das Virus und die ganzen Vorsichtsmaßnahmen gehen uns am Arsch vorbei. Es sterben nur alte Leute, die uns eh auf den Sack gehen! Wir sind jung und lassen uns unseren Spaß nicht verderben!"
Einige Läden und Geschäfte sind geschlossen, andere nicht. Die Buchhandlung ist dicht, der Tabak- und Zeitschriftenladen und die Frisöre haben geöffnet. Die Logik hinter dieser Auswahl erschließt sich mir nicht. Bücher gelten ganz offensichtlich nicht als Lebensmittel. Vor der Apotheke steht ein Schild, das darauf hinweist, dass jeweils nur drei Kunden gleichzeitig Zutritt haben. Vor der Tür hat sich eine Warteschlange gebildet. Zwei Männer mir ausrasierten Schädeln und Bärten klagen darüber, dass ihr Fitnessstudio geschlossen ist. Sie fürchten, dass ihr Körperpanzer Risse bekommt. Die Gespräche der Leute, die ich im Vorübergehen aufschnappe, kreisen samt und sonders um das Virus und die damit verbundenen Einschränkungen. Am Lahnufer versucht eine Mutter, ihrem Sohn das Inlineskaten beizubringen. Der Junge stürzt alle paar Meter und wirkt genervt. Wahrscheinlich würde er lieber vor seiner Spielekonsole sitzen. Für mindestens vier Wochen sind Eltern und Kinder nun zusammengesperrt. Man wird davon ausgehen müssen, dass es einen Anstieg häuslicher Gewalt geben wird.
Rezepte und Romane
Ich fahre mit dem Rad in Richtung Kloster Schiffenberg und pflücke Bärlauch, der dieses Jahr besonders früh seine Blätter ausgetrieben hat. Offenbar hat es sich bereits herumgesprochen, dass der Bärlauch da ist, denn überall sieht man Leute in der Hocke und beim Pflücken. Man tauscht Rezepte aus. Der eine bevorzugt ein Pesto, die andere Bärlauch-Quark, eine dritte schneidet sich die Blätter aufs Butterbrot. Ein junger Mann kommt auf mich zu und preist die das Immunsystem kräftigende Wirkung des Bärlauchs. Dann sagte er unvermittelt: "Es sterben an Corona ja nur Leute, die ein schwaches Immunsystem haben, die alt und krank sind." Er scheint damit einverstanden, dass nur die Jungen und Starken überleben.
Zu Hause angekommen, nehme ich Camus Roman "Die Pest" aus dem Regal und beginne, ihn im Lichte der aktuellen Ereignisse noch einmal zu lesen. Schon auf den ersten Seiten hat der unverwechselbare Camus-Sound mich gepackt. Camus schildert, wie die Pest in eine Stadt am Mittelmeer Einzug hält und wie die Menschen auf diese Situation reagieren. Die Romanhandlung spielt vor circa 70 Jahren, aber sie ist brandaktuell. Mit Camus im Kopf frage ich mich: Was ist, wenn die Krankheit einen Einsamen überfällt? Wenn da keiner ist und niemand und nichts? Nur eine große Leere, in der sich Verzweiflung ausbreitet.
Abends wendet sich die Kanzlerin an die Deutschen. Die Lage sei äußerst ernst, und sie fordert sie auf, sie ernst zu nehmen und sich an die Regeln zu halten. Sie redet den Menschen ins Gewissen. Was aber, wenn da keins mehr ist? Das Gespenst einer Ausgangssperre zieht herauf.
Von Götz Eisenberg