Gießen: DGB Mittelhessen kritisiert Armut trotz Arbeit

Armut wird einbetoniert: Mit der Kunstaktion stellt der DGB "Arm trotz Arbeit" an den Pranger. Foto: Schäfer
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1708 Personen im Landkreis Gießen sind trotz sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung auf aufstockende Leistung angewiesen. Der DGB nennt dies "entwürdigend".

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GIESSEN. Um über die Runde zu kommen, weil ihr Einkommen fürs Leben nicht reichte, hätten im Landkreis Gießen im Dezember 2019 1708 Personen trotz einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zusätzlich aufstockende Leistungen vom Jobcenter in Anspruch nehmen müssen. Dies prangerte Robin Mastronardi, Gewerkschaftssekretär des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Region Mittelhessen bei einer Kunstaktion vor dem Gewerkschaftshaus in der Walltorstraße an. "Das ist das Ergebnis langjähriger Niedriglohnpolitik." Er verwies dabei auf eine DGB-Auswertung der Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Jeder Fünfte von ihnen habe trotz eines Vollzeitjobs Anspruch auf zusätzliche Leistungen gehabt. "Vollzeit zu arbeiten und trotzdem zum Amt zu müssen, um sein Einkommen aufzustocken, ist entwürdigend", erklärte er. "Der Staat wird dabei als Lückenbüßer für niedrige Löhne missbraucht."

Zunehmend gingen Arbeitgeber dazu über, Arbeitsplätze nur noch in Form von atypischer Beschäftigung anzubieten; also zum Beispiel in Teilzeit, als Minijobs oder in Form von Leiharbeit. Dies erhöhe für die Arbeitgeber die betriebliche Flexibilität, führe indes dazu, dass noch mehr Beschäftigte nicht von ihrem Einkommen leben könnten. Im Landkreis Gießen sei diese Zahl im Vorjahresmonat um ein Prozent angewachsen. 1114 Beschäftigte in Teilzeitjobs seien am Ende des vergangenen Jahres davon betroffen gewesen. "Vor allem bei unfreiwilliger Teilzeit ist das für die Betroffenen bitter. Sie wollen mehr arbeiten, dürfen aber nicht. Dieser Trend muss gestoppt werden", forderte er. Besonders hoch sei die Aufstockungsquote auch bei Minijobs als Hauptbeschäftigung. 1398 Minijobber hätten aufstockende Leistungen in Anspruch nehmen müssen. "Es ist inzwischen nachgewiesen, dass Minijobs nicht als Brücke in existenzsichernde Vollzeitbeschäftigung geeignet sind." Sie böten viele Fehlanreize, die verhinderten, dass Betroffene dauerhaft aus dem Hartz-IV-System herauskämen. "Armut ist weiblich", sagte DGB-Geschäftsführer Matthias Körner und wies darauf hin, dass arbeitende Frauen in Trennungssituationen besonders von Armut betroffen seien. Zudem Männer generell besser bezahlt würden. "Auch macht unser System systematisch die Haushalte ärmer."

Für den DGB sei klar: "Wer arbeitet, soll davon leben und sich und seine Familie versorgen können. Jetzt und im Alter." Daher müsse spätestens in der nächsten Legislaturperiode das überholte Minijobmodell beendet und Niedriglöhnen durch einen armutsfesten Mindestlohn entgegnet werden. "Als erste Zielmarke gelten dabei zwölf Euro pro Stunde." Die Krise müsse zum Anlass genommen werden, politische Prioritäten zu korrigieren, so Mastronardi. "Wir benötigen einen steuerpolitischen Kurswechsel und eine Stärkung der Tarifbindung. Um die Jahrhundert-Herausforderung "Corona" und ihre wirtschaftlichen und sozialen Folgen meistern zu können, müssen Vermögende und Spitzenverdiener stärker in die Pflicht genommen werden." Es sei Fakt, dass die Armutsgefahr hierzulande so hoch sei wie nie zuvor. "Umverteilung ist nicht nur aus Gerechtigkeitsaspekten sinnvoll, sondern auch ein Gebot der ökonomischen Vernunft." Mehr Menschen sollten sich zudem für die Höhe des Hartz-IV-Regelsatzes interessieren, findet er.

Zentrale Stellschraube

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"Die meisten Menschen gehen davon aus, dass es sie nicht betrifft." Nicht zuletzt die Corona-Pandemie zeige, dass jeder kurzfristig seinen Job verlieren könne. "Entgegen dem üblichen Verständnis sind nicht nur Erwerbslose, die aus dem Arbeitslosengeld I herausgefallen sind, unmittelbar von dessen Höhe betroffen." Der Regelsatz beeinflusse die Höhe weiterer Sozialleistungen wie den Kinderzuschlag, BAföG, die Pfändungsfreigrenze sowie die Freibeträge im Steuerrecht. "Die Regelsätze sind somit eine zentrale Stellschraube des deutschen Systems der sozialen Sicherung, die neben den Teilhabechancen maßgeblich die Verteilungsverhältnisse in Deutschland beeinflusst." Auch entscheide die Höhe der Regelsätze letztendlich bei einem Arbeitsplatzverlust oder bei länger andauernder Erwerbslosigkeit zudem über die Fallhöhe des sozialen Abstiegs. Mit Blick auf die derzeitige Krise rief der Gewerkschaftssekretär daher zu einer Kehrtwende auf: "Gerade die Corona-Pandemie und die damit einhergehende ungewisse wirtschaftliche Entwicklung und die existenzbedrohende Situation von Millionen von Menschen in Deutschland zeigt uns doch, wie existenziell wichtig soziale Sicherheit für alle Schichten der Bevölkerung ist." Nur der Sozialstaat sei in Form des oft verschmähten Wohlfahrtstaats mit seinem Vorsorge- und Fürsorgesystem dazu in der Lage, die negativen Auswirkungen des Marktgeschehens zu kompensieren. Die Krise biete jetzt die Chance, neoliberale Dogmen, nach denen der Markt schon alles regle, ins Wanken zu bringen und Raum zur Korrektur politischer Prioritäten zu schaffen.