Gießens Evangelischer Dekan André Witte-Karp tritt der von manchen geäußerten Auffassung entgegen, Corona sei eine Strafe Gottes. Am Samstag hält er einen Gottesdienst zum...
GIESSEN. Am 31. Oktober wird an den Beginn der Reformation der Kirche durch Martin Luther im Jahr 1517 und damit die Entstehung evangelischer Kirchen erinnert. André Witte-Karp, Dekan des Evangelischen Dekanats Gießen, weist vor diesem Gedenktag darauf hin, dass die Corona-Pandemie auch Kirchen und Gemeinden vor große Herausforderungen stellt. Gemeindliches Leben sei eingebrochen: Kinder- und Seniorenkreise fielen aus, Chöre könnten nicht mehr proben, Konzerte blieben aus oder Konfirmandenunterricht fände wie der Schulunterricht in einer Art Ausnahmezustand statt. Gottesdienste würden ohne gemeinsamen Gesang, mit Maskenpflicht und Abstandsgebot gefeiert. "Besonders schwierig ist, dass wir noch nicht einmal wissen, was tatsächlich abgebrochen sein wird nach dieser langen Krise", so Witte-Karp, der seit einem Jahr im Amt ist. Zum jetzigen Zeitpunkt sei nicht vorhersehbar, in welcher Weise das Weihnachtsfest gefeiert werden könne. Viele Gemeinden bereiteten sich inzwischen darauf vor, die Hauptgottesdienste unter freiem Himmel zu feiern, auch digitale Angebote seien in der Planung. Gerade in diesem Jahr brauche es die tröstende, zuversichtliche und hoffnungsfrohe Botschaft des Weihnachtsfestes. Der Dekan beobachtet aber auch "segensreiche Aufbrüche". Während des Lockdowns im Frühjahr haben die Kirchengemeinden neue Formen und Kommunikationswege ausprobiert. "Sie haben es geschafft, den Kontakt zu halten und auch Menschen zu erreichen, die wir sonst nicht so leicht erreichen." Mit Glockenläuten, mit Briefen und Anrufen, mit ausgelegten Predigten und Sonderausgaben von Gemeindebriefen, mit Hoffnungskarten, die man sich von Kirchen pflücken konnte oder die in die Briefkästen gesteckt wurden. In vielen Gemeinden seien neue "digitale Kommunikationswege" erschlossen worden. Allerdings fragt Dekan Witte-Karp, "ob wir wirklich ausreichend für einsame und verlassene Menschen da sein konnten, etwa in den Alten- und Pflegeheimen. Auch in den Gemeinden haben wir darauf achten müssen, alte und kranke Menschen nicht zu gefährden." Natürlich sei die Klinikseelsorge vor Ort gewesen. Doch der Schutz und zugleich die Isolation alter Menschen in der Krise sei "eine bohrende Frage an die ganze Gesellschaft".
Eindeutig tritt Witte-Karp der von manchen geäußerten Auffassung entgegen, Corona sei eine Strafe Gottes. Allerdings sei "menschliches Leben nie krankheits- und krisenfrei" gewesen. Das Leben sei immer mit dem Tod konfrontiert und die Menschheit lebe nicht in der besten aller vorstellbaren Welten. "In Gottes Schöpfung bleibt uns manches verborgen." Doch glaube er an einen Gott, der für die Menschen und seine ganze Schöpfung das Leben will und mit allem dafür einsteht.
Witte-Karp sieht die politisch und gesellschaftlich Verantwortlichen jetzt vor schwierigen Entscheidungen bei der Abwägung unterschiedlicher Güter. "Selbst Gesundheit ist kein absolutes Gut, sondern muss mit anderen Gütern abgewogen werden." Das führe in schwierige Entscheidungen, die mit den steigenden Infektionszahlen neue Brisanz bekämen. Es müsse danach gefragt werden, wie Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen gesichert werden können. Wie hielten Eltern die Doppel- und Dreifachbelastungen bei der schulischen Unterstützung der Kinder aus, wenn es auch um die eigene wirtschaftliche Existenz gehe? Wie können alte und sterbende Menschen die menschliche Nähe bekommen, die sie brauchen? All diese Entscheidungen müssten im Ringen um den größtmöglichen Schutz "verantwortet werden".
Foto: Ev. Dekanat