"Ich male Bilder für Leute wie mich"

Beim Malen vergisst er Zeit, Raum und bisweilen auch sich selbst: Timo Erhardt.  Fotos: Erhardt

Der Gießener Timo Erhardt ist Türsteher, Erzieher, Kampfsportler - und einer der interessantesten Maler der Region. Nun zeigt er seine Arbeiten im Rathaus.

Anzeige

GIESSEN. Breites Kreuz, muskelbepackte Oberarme, der Körper mit großformatigen Tätowierungen bedeckt: Timo Erhardt entspricht so gar nicht den Klischees, die man üblicherweise mit einem Künstler verbindet. Und auch der Werdegang des 32-Jährigen scheint nicht zur Vita eines professionellen Malers zu passen. Vielleicht gerade deshalb zählt er zu den spannendsten, auf jeden Fall aber ungewöhnlichsten Talenten, die die Kunstszene der Region in den vergangenen Jahren hervorgebracht hat. Am kommenden Donnerstag, 28. Oktober, wird seine erste große Einzelausstellung im Atrium des Gießener Rathauses eröffnet. Sein passendes Motto lautet: "Kunst muss gar nix".

Beim Malen vergisst er Zeit, Raum und bisweilen auch sich selbst: Timo Erhardt.  Fotos: Erhardt
Frauen wie die mexikanische Malerin Frida Kahlo inspirieren den Gießener zu seiner eigenen Arbeit.

Türsteher

Erhardt hat keine Kunsthochschule besucht, keine klassische Ausbildung in Sachen Malerei durchlaufen, keine Galerie als Plattform zur Verfügung. Seinen Stil, seine Bildsprache hat er sich vielmehr als vor Elan und Enthusiasmus sprühender Autodidakt erarbeitet. Und seit seiner ersten Ausstellung vor zwei Jahren mehr und mehr Resonanz sowie vor allem Käufer gefunden. Er könnte also gerade am Ausgangspunkt einer erfolgreichen Laufbahn stehen - eine Entdeckung ist dieser sympathische, gut gelaunte junge Mann bereits jetzt allemal. Dabei hat er schon immer gemalt, wie er im Gespräch mit dem Anzeiger erzählt. Doch das war für den damaligen Schüler zunächst vor allem eine Art innerer Ausgleich, denn "ich bin als Jugendlicher oft angeeckt, war ein kleiner Rowdy".

Anzeige

So hat ihn auch früh die Faszination für den Kampfsport gepackt. Er begann mit Bodybuilding, nahm 2010 an Deutschen Meisterschaften teil, kam später zum Boxen und Kickboxen. Bis heute trainiert er regelmäßig in einem Studio in Lang-Göns. Die konzentrierte Arbeit am eigenen Körper verlieh dem umtriebigen Gießener nicht nur eine gewisse Ruhe, sondern machte ihn auch bereit für die bisweilen handfeste Arbeit als Türsteher, die er vor mehr als zehn Jahren begann und bis heute ausübt. Vor zahlreichen, ganz unterschiedlichen Adressen der Stadt sorgte er seither für den Einlass: Apfelbaum, Alpenmax oder Frau Trude zählt er auf. Und auch in Frankfurt hat er für verschiedene Clubs gearbeitet. Auseinandersetzungen mit aggressiven Besuchern gehören da bisweilen dazu. Vor allem aber "mag ich es, mit Menschen zu reden, mit ihnen in Kontakt zu kommen."

Erzieher

Diese Zugänglichkeit und Zugewandtheit befähigt ihn auch zu seinem Hauptberuf als ausgebildeter Erzieher. Erhardt kümmert sich in einem Kinderheim um eine Gruppe von Jungs im Alter von 11 bis 21 Jahren. "Die haben schon viel Scheiße erlebt", erzählt er - als Flüchtlinge, mit Drogen, mit sexueller Gewalt. Keine einfache Aufgabe also, doch die intensive Gemeinschaft "gibt mir etwas", berichtet er über die Arbeit, zu der auch komplette 24-Stunden-Schichten im Heim gehören.

Diese beiden so unterschiedlichen Berufe sind wesentlich für die künstlerische Prägung des Gießeners. Denn auch auf der Leinwand mag er es intensiv, kraftvoll und aufgeladen. Sein Stil lässt sich der Pop-Art zuordnen. Inspirationen bezieht er aus unterschiedlichsten Quellen. Die großen Museen von New York bis Paris hat er besucht. Sich ebenso über Instagram mit anderen Künstlern in aller Welt ausgetauscht. Hinzu kommen Filme, Musik und Bücher, von denen er sich elektrisieren lässt. Oft nutzt er dazu Fotos als Vorlage, die er zum Ausgangspunkt für seine Leinwandmotive macht. Die Malerin Frida Kahlo und der Schauspieler Steve McQueen sind ebenso bei ihm zu entdecken, wie Humphrey Bogart, dem der Gießener allerdings eine Gesichtsmaske überzieht, während die Augen der beiden Frauen an seiner Seite - Marilyn Monroe und Lauren Bacall - mit Balken übermalt sind. Was diesem berühmten Trio die Anmutung einer Verbrecherbande gibt.

Anzeige

Typisch für Erhardt, der seine Motive häufig mit Farbe, aber auch mit griffigen Sätzen, Zitaten, Wörtern anreichert oder gar übermalt. Oft sind die Bilder Schwarz-Weiß, die Farben nach unten verlaufen, ist der Arbeitsprozess noch sichtbar. So entstehen Collagen, wie die an Andy Warhol erinnernde, mit Marker auf Aquarellpapier gezeichnete Marlboro-Schachtel, unter der sich der Satz findet: " I smoke to remember the taste of your kiss last night".

Künstler

Das Geheimnis der Nacht schwingt wie hier häufig mit in den Arbeiten Timo Erhardts. Und das reizt ihn nicht nur in den Clubs, sondern auch zuhause, während er malt. "Dann mache ich mir Musik an, trinke einen Kaffee und stelle mich vor die leere Leinwand". Wenn es gut läuft, kommt er dann "in einen Flow", vergisst Zeit, Raum und sich selbst - und irgendwann ist es plötzlich halb Drei morgens. Kein Wunder, wenn er also bekennt, wie viel "Schweiß und Herzblut" in seinen Arbeiten steckt. Für den 32-Jährigen muss es "ums Ganze gehen". Und deshalb wünscht er sich für seine Kunst Käufer, die sich berühren lassen, die seine Bilder nicht nur als Dekoration verwenden, die im besten Falle "so sind wie ich".

Was ihn dagegen furchtbar stört, sind Regeln und Menschen, die diese Regeln vorgeben. "Das muss so und so sein - muss es eben nicht!", sagt er mit Nachdruck. "Kunst muss gar nix" lauten daher sein Motto wie auch der Titel der Ausstellung, die nun im Rathaus zu sehen sein wird. Aber sie kann - wie Timo Erhardt zeigt - eine ganze Menge. Wovon sich nun auch viele Besucher im Rathaus ein Bild machen können.

Von Björn Gauges