Beim Straßenfest „Gießen kindgerecht gestalten“ wollen Verkehrswende-Aktivisten erfahren, was hinter den verkehrspolitischen Abmachungen im Koalitionsvertrag steckt.
GIESSEN. GIESSEN. Angekündigt war, ihnen „auf den Zahn fühlen“ zu wollen. Die neuen Koalitionäre sollten zu ihren vertraglich verankerten Vereinbarungen für die Legislaturperiode bis 2026 „Farbe bekennen!“. Anlässlich des Straßenfestes „Gießen kindgerecht gestalten“ im Alten Wetzlarer Weg wollten Verkehrswende-Aktivisten in einem Polittalk erfahren, was vor allem hinter den verkehrspolitischen Abmachungen steckt. Für die Grünen hatte sich ihr Fraktionschef und Kandidat zur Oberbürgermeisterwahl am 26. September, Alexander Wright, aufs Podium gesetzt. Für die SPD war Kamyar Mansoori als stellvertretender Vorsitzender des Bauausschusses gekommen. Und für die Gießener Linke griff ihr Radfahrexperte Stefan Häbich zum Mikrofon.
Wann werden aus den Worten Taten? Wie lange dauert was? Und was ist konkret? Und was wird ganz schnell umgesetzt? Diana Schaeppe und Jörg Bergstedt (Saasener Projektwerkstatt) nahmen sich die drei Kommunalpolitiker zur Brust und verlangten konkrete Antworten. Mit dem „schnell umsetzen“ sei das so eine Sache. Dies war zumindest aus den Worten von Wright, der die vergangenen fünf Jahre ehrenamtlich bei den wöchentlichen Magistratssitzungen verbrachte, herauszuhören. „Wir geben das in die Verwaltung und hoffen darauf, dass da was kommt.“ „Wann geht‘s los?“, hieß die spezielle Frage an ihn ob des „Gehwege Freimachens von Autos“, wie es im Koa-Vertrag angekündigt wird. „Noch sind uns die Hände gebunden. Wir können bisher nur Anträge stellen“, so seine Antwort. Laut Verkehrsordnung dürfe zwar nicht auf Bürgersteigen geparkt werden. Es sei jedoch Sache des Dezernenten, wie er seine Leute für die Kontrolle abstelle. Klang alles andere als optimistisch. Zwar solle der zuständige Verkehrsdezernent Peter Neidel zum 30. September abgewählt werden. Doch schwebe ein gefürchtetes Szenario in den Köpfen der Koalitionäre: Der CDU-Kandidat gewinnt die OB-Wahl und kann die Dezernate nach seinem Gutdünken verteilen. Gerade dieses Dezernat wollen die Grünen jedoch unbedingt zurück. Von 2011 bis 2016 hatten sie es bereits mit Gerda Weigel-Greilich besetzt.
Gerechte Verteilung des Verkehrsraumes. Was das heißt, wollte Schaeppe von den grün-rot-roten Parteivertretern wissen. OB-Kandidat Wright wich der Frage aus und verwies darauf, dass die Wege in Gießen zu 80 Prozent mit Autos zurückgelegt würden. Ziel sei es, auf nur noch 20 Prozent zu gelangen. Geschehen soll dies, indem mehr Raum für Zweiräder zu schaffen sei. Und auf Nachfrage zur gerechten Verteilung: „Nein, es können nicht alle den gleich großen Raum bekommen. Auch bei den 20 Prozent werden die Autos immer noch ungleich mehr Platz brauchen. Eine Straßenbahn könnte uns bei dem Vorhaben helfen. Wenn‘s ein guter Weg ist, wollen wird das machen.“ Zumindest eine Umverteilung werde angestrebt. „Das ist sehr ehrgeizig“, so sein Kommentar.
Parkgebühren
Schaeppe forderte Kostenwahrheit für Parkraumbewirtschaftung. Nicht realistisch sind für Mansoori 50 Cent je Stunde an Parkgebühren. „Wir stellen öffentlichen Raum für Parkplätze zur Verfügung und müssen jetzt unbedingt die Kosten dafür abbilden.“ Stefan Häbich spricht vom „Kröte schlucken“ beim Koa-Vertrag. Der von den Grünen abgelehnte kostenlose ÖPNV liege seiner Fraktion schwer im Magen. „Das ist sozial nicht gerecht. Da muss noch nachverhandelt werden.“ Die Goethestraße ist für ihn keine wirkliche Fahrradstraße. „Nur Anlieger sollten mit ihren Autos fahren dürfen.“ Eine fehlende Radfahrerquerung über die Südanlage werde vermisst. Da prustete Wright vor Lachen: „Wenn ich von der Südanlage komme und nach links in die Goethestraße will, muss ich erst nach rechts abbiegen, um dann nach einer Kehre dorthin zu gelangen.“
Zusagen gab es für mehr Fahrradstraßen in Gießen – wie Neuen Bäue –, Wegfall von kostenlosen Anwohnerparkplätzen – wie in der Liebigstraße –, Ende des verbotenen Gehwegparkens – wie in der Fröbelstraße –, autoarme Innenstadt – Erlaubnis nur für Bewohner, Behinderte und Anlieferer, keine E-Ladesäulen und keine Tiefgarage Brandplatz –, mehr Querungsmöglichkeiten für Fußgänger – wie Bismarckstraße über Südanlage. Was allerdings unter „barrierefreie Innenstadt“ zu verstehen ist, wurde nicht näher ausgeführt.
„Die meisten Parteien hier waren ja schon lange an der Macht“, stellte Berg-stedt abschließend fest. Mehrere Legislaturperioden sind es. „Wir alle müssen ihnen Arschtritte verteilen, was das Zeug hält“, verkündete er jovial, doch ernst gemeint. Sein Appell an die Teilnehmer: „Nutzt das Versammlungsrecht und macht bei einem Aktionstag aus einer Straße eine Fahrradstraße! Und guckt, wie geil das ist!“