Influenza weiter ernst nehmen: Appell zu Grippeschutzimpfung

Wie bei der Corona-Impfung ist auch bei der Grippeschutzimpfung der Piks mit der Spritze schnell erledigt.  Symbolfoto: dpa

Trotz stark gesunkener Fallzahlen hat die Grippeschutzimpfung nicht an Bedeutung verloren - Interview mit der Gießener Infektiologin Prof. Susanne Herold. Kombinierter...

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GIESSEN. Vor lauter Corona spricht kaum noch jemand über die Influenza. Dabei hat in diesen Wochen die Grippesaison begonnen. Sogar bis etwa Mitte Mai zirkulieren Influenzaviren in der Bevölkerung, wie die langjährigen Erfahrungen zeigen. Bei Grippewellen kam es in der Vergangenheit in Deutschland nicht selten zu fünfstelligen Todeszahlen, so erst in der Saison 2017/18 mit über 25 000. Ein völlig anderes Bild zeigte die Grippesaison 2020/21: Nach etwas mehr als 191 000 gemeldeten Influenzafällen 2019/20 registrierte das Robert-Koch-Institut (RKI) nun bundesweit gerade einmal 753 Fälle. Auch in den Gießener Krankenhäusern fiel die Influenzasaison praktisch aus, wie Nachfragen des Anzeigers belegen. Dem beim Landkreis angesiedelten Gesundheitsamt wurden lediglich vier Fälle gemeldet, nachdem es 2019/20 noch circa 530 waren. Diese fast unglaubliche Entwicklung ist einerseits eine Folge der Corona-Schutzmaßnahmen wie Masketragen und Abstandhalten, liegt aber auch an einer Rekordzahl von damals rund 27 Millionen verfügbarer Dosen des saisonalen Influenzaimpfstoffs. Eine ähnliche Anzahl hat das Bundesgesundheitsministerium auch für die jetzige Grippesaison bestellt. Im Gespräch mit dieser Zeitung erläutert Prof. Susanne Herold, Abteilungsleiterin des Schwerpunkts Infektiologie am Gießener Uniklinikum (UKGM), was sich in Sachen Grippeschutzimpfung weiter getan hat und inwieweit hier das Coronavirus SARS-CoV-2, das die Lungenkrankheit Covid-19 verursacht, eine Rolle spielt.

Frau Prof. Herold, dem RKI wurden für diese Grippesaison bis letzte Woche aus ganz Deutschland "nur" 83 Influenzafälle gemeldet: Heißt dies, dass wir uns mit der Grippeschutzimpfung noch Zeit lassen können, sofern sie angesichts der stark gesunkenen Fallzahlen überhaupt noch erforderlich ist?

An der Wichtigkeit der Grippeschutzimpfung hat sich nichts geändert. Da die Influenzaviren bereits im Umlauf sind und es etwa zwei Wochen dauert, bis sich nach der Impfung im Körper ein ausreichender Schutz vor einer Ansteckung aufgebaut hat, ist es empfehlenswert, sich schon jetzt impfen zu lassen.

Für wen ist die Grippeschutzimpfung besonders wichtig?

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Vor allem bei Menschen mit einer chronischen Lungenerkrankung oder die immunsupprimiert sind. Generell für über 60-Jährige wie auch Schwangere und Personen, die durch viele Kontakte, wie etwa im Krankenhaus oder Altenwohnheim, ein höheres Ansteckungsrisiko haben.

Inwieweit hilft es, wenn sich auch Menschen gegen Grippe impfen lassen, die eigentlich wegen ihres eigenen guten Gesundheitszustands bei einer Ansteckung keine negativen Folgen für sich zu befürchten hätten?

Der Hauptfaktor dafür, wie stark sich eine Infektion ausbreitet, ist immer der Mensch. Daher ist bei Influenza wie auch bei Covid-19 eine hohe Impfquote der Bevölkerung von großer Bedeutung. Auch bei ansonsten gesunden Menschen kann eine Virusgrippe mitunter einmal schwer verlaufen, ähnlich wie wir es jetzt bei vielen jüngeren ungeimpften Covid-Patienten sehen.

Mit dem Coronavirus gemein hat das Influenzavirus auch, dass schon einfache Hygienemaßnahmen für einen guten Schutz sorgen.

Ja, auch hier lässt sich mit regelmäßigem Händewaschen, Abstandhalten und dem Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung, insbesondere in Menschenmengen und im Öffentlichen Personennahverkehr, viel erreichen. Nicht ohne Grund tragen gerade in den Großstädten von China und Japan viele Menschen eine Maske, wenn sie auf der Straße oder in U-Bahnen und Zügen unterwegs sind. Dieses Verhalten hat sich dort durch die SARS-Pandemie (2002/03, Anm. d. Red.) und die Vogelgrippe (gehäufter Übergang auf Menschen seit 1997, Anm. d. Red.) etabliert.

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Der Influenzaimpfstoff wird jedes Jahr von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) neu zusammengestellt aus verschiedenen Virus-Stämmen der vorherigen Grippesaison. War das dieses Mal überhaupt möglich angesichts der deutlich geringeren Fallzahlen?

Die WHO bestimmt jährlich getrennt für die nördliche und für die südliche Erdhalbkugel, welche Virusstämme dort jeweils besonders häufig vorkamen, und trifft aus diesen Daten entsprechende Vorhersagen. Danach richtet sich dann die Herstellung für den Norden und den Süden. Aus diesem Grund war das auch dieses Mal machbar. In der Regel befinden sich in einem Vierfach-Impfstoff zwei Influenza-A- und zwei Influenza-B-Stämme. Damit wird ein breites Spektrum abgedeckt und ist eine gute Effektivität gegeben.

Am praktischsten wäre es, jedes Jahr nur einen Impfstoff zu haben, der gleichzeitig gegen Influenza UND Corona wirkt, und das möglichst mit nur einer Spritze. Klingt wie Science-Fiction - oder ist das doch nicht so unrealistisch und womöglich in nicht allzu ferner Zukunft auch für jeden verfügbar?

Tatsächlich gibt es Hersteller, die solche Impfstoffkombinationen auf ihrer Agenda haben. Insbesondere mRNA-Impfstoffe, die relativ rasch austauschbar und kombinierbar sind, würden sich hierfür anbieten. Man muss aber zunächst SARS-CoV-2 und die gegebenenfalls noch entstehenden "Variants of Concern" (die besorgniserregenden Virusvarianten, Anm. d. Red.) im Auge behalten und eine möglichst gute Durch-Immunisierung hier erreichen. Das Schöne an dieser Technologie wäre, dass man sie jedes Jahr anpassen könnte, um alle gefährlichen Varianten abzudecken. Bis so etwas aber marktreif ist, wird noch einige Zeit vergehen und ist noch viel Forschungsarbeit notwendig.

Derzeit dominiert bei uns und in den meisten Ländern der Erde die Deltavariante des Coronavirus. Sie hat bereits das Ursprungsvirus sowie die Alpha-, Beta- und Gamma-Varianten weitgehend verdrängt. Bedeutet dies, dass Delta noch lange Zeit vorherrschend sein wird? Oder ist es wie bei Influenzaviren zu erwarten, dass jährlich weitere Stämme beziehungsweise Varianten hinzukommen und auch gegen Corona alljährlich ein neuer Impfstoff entwickelt werden muss?

Das tägliche Geschäft eines Virus ist es, sich anzupassen und zu mutieren. Es kann daher sein, dass die jetzige Corona-Impfung in Zukunft bei neuen Virusvarianten nicht mehr ganz so gut wirkt und vielleicht in Zukunft auch angepasst werden muss. Zurzeit scheint aber die Deltavariante recht stabil zu sein. Anders als bei Influenzaviren ist die Mutationsrate von Coronaviren vergleichsweise niedrig, eine regelhafte jährliche Anpassung ist nicht zu erwarten. Die derzeit verfügbaren Corona- und Influenza-Impfstoffe haben also eine hohe Wirksamkeit. Dennoch bleibt es eine Aufgabe, kontinuierlich Daten zu erheben, um Impfstoffe entsprechend anzupassen.

Von Frank-O. Docter