Diplom-Pädagogin Carolin Tillmann hat für ein Buch Interviews mit rund 100 Schwerkranken und 50 Angehörigen geführt.
MARBURG. Viele Menschen leiden unter den sozialen Folgen ihres Krankseins mindestens genauso stark, wie unter der Krankheit selbst - zu dieser Einschätzung kommt die Marburger Wissenschaftlerin Carolin Tillmann. "Es gibt eine Aus-den-Augen-aus-dem-Sinn-Mentalität", sagte die Diplom-Pädagogin. "Je länger die Krankheit dauert und je schwerer sie ist, umso mehr wirkt sich diese Mentalität im Alltag Betroffener aus." Die Kranken treffen Tillmann zufolge oft auf Unverständnis, der Freundeskreis wird kleiner, Beziehungen verändern sich, sie können ihre gewohnten Rollen etwa als Eltern oder in Freundschaften nicht mehr ausfüllen. Das geschehe auf privater und auf beruflicher Ebene, mit Folgen bis zum Verlust des Arbeitsplatzes und großen finanziellen Einbußen. Grund für dieses "soziale Sterben" sei eine an "Erfolg und Leistung orientierte Gesellschaft", kritisierte die Autorin des Buches "Niemand sollte vor seinem Tod sterben". Für ihr Buch hat Tillmann mit rund 100 Schwerkranken und 50 Angehörigen Interviews geführt.
Der medizinische Fortschritt ermögliche es vielen Patienten, zum Teil sehr lange mit ihrer Krankheit weiterzuleben. Die Medizin könne heute auch schwere Symptome wie schlimme Schmerzen eingrenzen. "Aber wir machen nichts daraus." Kranke würden in die Isolation gedrängt, und zwar zunehmend mit Krankheitsdauer und -aktivität. Eine kurze Erkrankung werde von Freunden und Kollegen noch gut toleriert. "Die kranken Menschen wären ja gern eine andere Person, sie würden gern zur Geburtstagsfeier gehen und einen Kuchen mitbringen." Aber sie schafften es einfach nicht mehr.
Carolin Tillmann, die am Arbeitsbereich Sozial- und Rehabilitationspädagogik an der Marburger Universität zu dem Thema forscht, forderte dringend, die Bedingungen für Kranke zu verbessern. "Der Sozialstaat darf nicht aus seiner Pflicht entlassen werden." So sei zum Beispiel die Berufsunfähigkeitsrente zusammengestrichen worden. Bei den Ursachen von Überschuldung rangiere Krankheit auf dem dritten Platz. "Der Gesellschaft muss deutlich werden, dass diese Diskriminierungen von Kranken keine Einzelfälle sind." Tillmann fordert geeignete Konzepte, etwa neue Wohn- und Lebensformen, um die Menschen weiter am Leben teilhaben zu lassen.
Betroffenen und Angehörigen riet die Wissenschaftlerin: "Raus aus der Isolation und neue Interessen suchen", zum Beispiel sich Selbsthilfegruppen anschließen, an Diskussionen im Internet teilnehmen, eingeschlafene Kontakte wieder aufnehmen, Hörbücher hören, Haustiere versorgen oder sich einfach nur um die Blumen in der Wohnung kümmern. Und sie sollten "Unterstützung und Beratung durch Profis in Anspruch nehmen, ihre Rechte kennenlernen und wahrnehmen".
Mit der Krankheit könne sich eine "neue Normalität" entwickeln: "Die Kranken haben ja schon viel durchgemacht und dadurch so viel an Mut und Stärke gewonnen."