Die vier evangelischen Innenstadtgemeinden haben einen gemeinsamen Familiengottesdienst von einem professionellen Filmteam aufzeichnen lassen. Das Ergebnis ist ab heute im...
GIESSEN. Der große, mit Goldfolie beklebte Weihnachtsstern ist glücklicherweise flexibel. Mithilfe eines langen Stabs wird das Bastelwerk über einen Draht durch den Himmel der Petruskirche gezogen. Der Aufwand sichert den perfekten Bildausschnitt. Für die Schauspieler bedeutet die Umbauphase indes: schon wieder warten. Ausgestattet mit Mund-Nasen-Masken sitzen die Konfirmanden der Petrus- und Pankratiusgemeinde auf den Kirchenbänken, zwischen ihnen weit mehr als der vorgeschriebene Mindestabstand. Eine professionelle Produktionsfirma zeichnet hier am Vortag des dritten Advents unter strengen Hygieneregeln das Krippenspiel auf, das ab Heiligabend über die Internetseiten der vier evangelischen Innenstadtgemeinden abrufbar ist. Das Corona-geprägte Jahr hat etliche (unfreiwillige) Premieren beschert und so ist auch der Dreh des Familiengottesdienstes für alle Beteiligten Neuland. "Wer weiß, was noch kommt", sagt Matthias Leschhorn achselzuckend. Der Pfarrer der Petrusgemeinde ist froh, wenn die Aufnahme im Kasten ist. Denn so gibt es wenigstens einen Ersatz für das gewohnte Spiel vor übervollem Gotteshaus, eine - diesmal eben digitale - Konstante in Zeiten, in denen selbst Weihnachten unbeständig scheint.
Besetzung ausgedünnt
Nähe schafft Emotion - auch im Film. Die Pandemie sorgt vor diesem Hintergrund für zusätzliche Herausforderungen. "Wir müssen mit größerem Abstand drehen und trotzdem eine atmosphärische Stimmung erzeugen", verdeutlicht Marco Kessler; er ist der Geschäftsführer der Lindener "Full Digital"-Produktionsfirma "Mediashots" und Hauptkameramann. Um unter Einhaltung des Infektionsschutzes einen Dreh realisieren zu können, ist die Besetzungsliste deutlich ausgedünnt worden. "Wir zeigen ein Krippenspiel, das unter Corona möglich ist", erklärt der Pfarrer der Pankratiusgemeinde, Peter Ohl. "Die Masse an Hirten und die Engelschar fehlen." Nur zwölf Konfirmanden wirken an dem Stück mit, die Vorlage wurde umgeschrieben. Durch den Gottesdienst führen die Pfarrer abwechselnd, alle vier Gemeinden werden also ein vertrautes Gesicht sehen - neben Matthias Leschhorn und Peter Ohl sind Michael Paul für die Johannes- sowie Matthias Weidenhagen und Vikarin Dr. Mirjam Sauer für die Lukasgemeinde beteiligt.
Das vierköpfige Filmteam karrt kistenweise Technik in die Petruskirche. Ein Mischpult wird in Betrieb genommen, der Altarbereich mit zehn Lampen ausgeleuchtet, die Farbtemperatur angepasst, drei Kameras bereitgestellt. Neben einer Steadicam für ruckelfreie Fahrten kommt eine hochauflösende 6K-Kamera zum Einsatz, die auch in der Kinofilmproduktion verwendet wird. "Der Aufwand ist für ein Krippenspiel enorm hoch", fasst Marco Kessler zusammen. Und dann, als das Equipment fertig installiert ist, fehlt ausgerechnet der Hauptdarsteller.
Das ausgewählte Stück geht zweifelsfrei als moderne Variante durch. So heißt der männliche Protagonist nicht Josef, sondern Benjamin und ist: ein Esel. Als Erzähler führt er die weibliche Hauptrolle, das Mädchen Emma, im Traum durch die Weihnachtsgeschichte. Und Emma greift vor dem Einschlafen nicht zur Bibel, sondern zu "Harry Potter und die Heiligtümer des Todes". Ihre Darstellerin Malou hat noch nie vor einer Kamera gestanden. Aufgeregt ist die 14-Jährige aber nicht. "Anders als an Weihnachten in der Kirche kann hier ja einfach wiederholt werden, was nicht geklappt hat." Grete, die den Engel mimt, stimmt zu. "Wir versuchen einfach, so zu spielen, als sei der Saal voll."
Nachdem die - digitale - Filmklappe zur ersten Szene gefallen ist, könnte man eine Stecknadel fallen hören. "So diszipliniert habe ich noch keine Gruppe erlebt", lobt Pfarrer Leschhorn. "Sonst herrscht immer ein großes Tohuwabohu." Absolute Stille ist während der Dreharbeiten in dem hallenden Gotteshaus allerdings auch dringend notwendig. Die sensible Technik "hört" alles: raschelndes Papier, Geflüster oder den tieffliegenden Rettungshubschrauber der benachbarten Uniklinik. Im Vorfeld ist der Schaumstoff-Windschutz von den Headset-Mikrofonen entfernt worden. So sind die Geräte zwar noch empfindlicher für Störgeräusche - schon lautes Atmen reicht - können aber auch leichter desinfiziert werden. Die - nicht in chronologischer Reihenfolge aufgenommenen - Szenen werden dutzendfach durchgespielt, aus wechselnden Perspektiven und Einstellungen gedreht, dazu noch Schnittbilder gefilmt und Übergänge kontrolliert. Das dauert. Inzwischen ist auch der Esel eingetroffen. Felix hätte seine Rolle an Heiligabend lieber live vor Zuschauern zum Besten gegeben. "Bei Fehlern alles zu wiederholen, vermittelt einfach nicht so viel Menschlichkeit", findet der 14-Jährige. Dafür ist allerdings die Nervosität geringer.
Der Part von Matthias Leschhorn schwankt zwischen Regisseur, Souffleur und Hygienebeauftragtem. Das Drehbuch hat der Pfarrer vor sich auf der Kirchenbank ausgebreitet. "Nehmt die Masken erst ab, wenn ihr auf Euren Plätzen seid und der Abstand stimmt", ruft er den vier Hirten zu. Und dann muss der Mund-Nasen-Schutz auch noch außerhalb des Bildausschnitts versteckt werden. Als nach gut fünf Stunden die letzte Szene des - eigentlich nur 20 Minuten langen - Krippenspiels ansteht, wird es noch einmal heikel. Paula und Jonathan schreiten als hochheiliges Paar auf dem Weg nach Bethlehem gerade durch den Mittelgang, da schaltet sich der Pfarrer eindringlich aus dem Off ein: "Maria und Josef, bitte haltet mehr Abstand. Das ist so wichtig!"
In der Predigt spielt die Corona-Pandemie hingegen nur eine Nebenrolle. Einzig in der Begrüßung wird kurz auf die aktuelle Situation verwiesen. Im Familiengottesdienst sollte der Schwerpunkt nicht auf der Krise liegen, findet Pfarrer Peter Ohl. "Unsere Zeit ist ja gerade schon mehr dunkel als goldlaminiert." Umso wichtiger also, dass der leuchtende Weihnachtsstern besonders prominent im Bild zu sehen ist.
Von Jasmin Mosel