Landgericht Gießen verhängt milde Strafen im "Bahoz"-Prozess

Seit Mitte September ging es in der Landgericht-Außenstelle im ehemaligen US-Depot um den Sturm auf eine Shisha-Bar. Foto: Mosel
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18 vermummte Personen stürmten im Juni 2016 eine Offenbacher Shisha-Bar und attackierten Gäste. Vier Männer aus Gießen sind nun verurteilt worden. Doch wer mit einem Messer...

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GIESSEN. Das Urteil wird auch im Zuschauerbereich mit Spannung erwartet. Rund 15 junge Männer lauschen hier eng aneinandergerückt den Schlussvorträgen im Prozess um einen Angriff auf eine Offenbacher Shisha-Bar im Juni 2016. Eindringlich erinnert der Vorsitzende der Jugendkammer, Andreas Wellenkötter, an das Abstandsgebot. Per Videochat werden in dem - vom Gerichtssaal abgeschlossenen - Bereich weitere Bekannte zugeschaltet, die Kompetenzen der jeweiligen Verteidiger lautstark, aber wenig fachkundig, diskutiert. Die Stimmung ist bestens, als sich abzeichnet, dass die sechs Angeklagten - wenn überhaupt - mit milden Strafen rechnen können.

"Hörensagen" reicht nicht

Die Tat, die im externen Sitzungssaal 1 des Gießener Landgerichts seit Mitte September aufgearbeitet wurde, liegt bereits mehr als vier Jahre zurück. 18 vermummte Personen stürmten während einer Übertragung der Fußball-EM eine Shisha-Bar; Schlagstöcke und Pfefferspray kamen zum Einsatz, Wasserpfeifen wurden als Schlaginstrumente zweckentfremdet. In nur rund 40 Sekunden wurden Gäste attackiert, ein Mann erlitt Stichverletzungen in Hals, Bauch, Arm und Hand. Als Hintergrund geisterten Rivalitäten zwischen der rockerähnlichen Vereinigung "Bahoz" (kurdisch für "Sturm") und den türkisch-nationalistischen "Osmanen Germania" durch die Akte.

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Wegen gefährlicher Körperverletzung und schweren Landfriedensbruchs werden nun drei junge Gießener verwarnt. Zum Tatzeitpunkt waren sie 17, 18 und 20 Jahre alt und damit Jugendliche beziehungsweise Heranwachsende. Ein 26-Jähriger, der bereits früh ein Geständnis abgelegt hat und damals unter laufender Bewährung stand, erhält eine zehnmonatige Bewährungsstrafe. Die vier Männer müssen zudem jeweils 1500 Euro an die Opferhilfe-Organisation "Weißer Ring" zahlen. Eineiige Zwillingsbrüder aus Seligenstadt werden freigesprochen. In der Aussage des Opfers sei deutlich geworden, dass es die 25-Jährigen gar nicht erkannt und sich stattdessen auf "Hörensagen" sowie die Meinungen Dritter verlassen habe. "Selbst wenn eindeutig hätte festgestellt werden können, dass einer der Beiden dabei war, wüssten wir nicht welcher", begründet Wellenkötter den Freispruch. Dass die vier weiteren Angeklagten an dem "überfallartigen Einwirken" auf die Bar beteiligt waren, steht nach Überzeugung der Kammer aber fest. Unter anderem wurden sie auf Fotos von einem szenekundigen Kripo-Beamten zweifelsfrei wiedererkannt und dem Umfeld der - inzwischen aufgelösten - Gießener "Bahoz" zugeordnet. Zudem hatten die heute 24 und 22 Jahre alten Männer zugegeben, bei dem Angriff dabei gewesen zu sein, allerdings ohne Gewalt auszuüben. Die Tat sei "aus dem Ruder gelaufen", sagt der Vorsitzende. Wer mit dem Messer zugestochen habe, lasse sich nicht zuordnen. Der siebte Angeklagte, ein Gastronom aus Gießen, wird sein Urteil zu einem späteren Zeitpunkt erhalten. Sein Verfahren wird abgetrennt, da sich der Mann kurz vor dem letzten Prozesstag nach einem Corona-Fall vorsichtshalber in Quarantäne begeben hat.

"Kinderkram"

In den Plädoyers herrscht zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung viel Konsens, insbesondere, was den Nachweis der Tatbeteiligung betrifft. Allerdings sieht Staatsanwalt Rouven Spieler neben der gefährlichen Körperverletzung auch den Tatbestand des schweren Landfriedensbruchs als erwiesen an. Schließlich seien auch unbeteiligte Gäste durch die "unberechenbare Randale" verletzt und verängstigt worden. Eine "gruppenspezifische Fehde" im Sinne der organisierten Kriminalität erkennt der Strafverfolger allerdings nicht. Vielmehr - darin besteht Einigkeit - soll eine vorangegangene Disco-Schlägerei um eine Frau aus dem Freundeskreis des späteren Opfers das Motiv gewesen sein. Als "Lappalie" sei die Tat dennoch nicht einzustufen. Das Opfer hätte durch die Messerstiche lebensgefährlich verletzt werden können "und dann hätte man einen Menschen auf dem Gewissen wegen so einem Kinderkram". Insbesondere gegen die jüngsten Angeklagten teilt der Strafverfolger Spitzen aus und gibt noch einen Tipp für den weiteren Lebensweg: "Freunden beim Umzug helfen: ja. Freunden dabei helfen, eine Bar auseinanderzunehmen: nein. Das kann man sich ganz einfach merken." Statt sich "wie Kleinkinder mit der Schippe zu hauen", könne Männlichkeit auch demonstriert werden, "indem man sich souverän verhält".

Als "planlosen Mitläufer" und "Bauernopfer" bezeichnet Verteidiger Thorsten Marowsky seinen Mandanten. Der 24-Jährige sei eine "absolute Randfigur" gewesen und zum Auskundschaften vorgeschickt worden. In der Bar habe er dann sogar selbst Schläge kassiert. Dagmar Nautscher, Verteidigerin des 22-Jährigen, erklärt, das "egomane Ehrgefühl der Kontrahenten" habe zur Tat geführt. Rechtsanwalt Alexander Hauer fehlen hingegen objektive Beweise für das Mitwirken des jüngsten Angeklagten, der aus diesem Grund freizusprechen sei. Diesem Antrag folgt die Kammer letztlich nicht. Nautschers und Marowskys Mandanten nutzen das "letzte Wort" für eine Entschuldigung. "Das tut mir alles leid, so was wird nie wieder vorkommen", sagt der 24-Jährige. Sein zwei Jahre jüngerer Mitangeklagter betont, "im Leben angekommen" zu sein. "Wie süß", findet einer der Zuschauer.

Bevor er die Verhandlung schließt, beschreibt Richter Wellenkötter noch ein "diffuses Gefühl", das für ihn bleibt. "Gibt es den Geist der damaligen Gruppe doch noch?", fragt der Vorsitzende rhetorisch und stellt klar: "Echte Distanzierung sieht anders aus." Die Männer im Zuschauerraum lachen, einer applaudiert.

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Von Jasmin Mosel