Im Juli 2020 raste ein 29-Jähriger nach einer Verfolgungsjagd mit der Polizei durch die belebte Gießener Fußgängerzone. Dass niemand verletzt wurde, war reines Glück. Das...
GIESSEN. 11. Juli 2020 - ein lauer Samstag in Gießen. Die Zahl der Corona-Infektionen ist niedrig; Geschäfte und Gastronomien in der Innenstadt haben nach dem Teil-Lockdown im Frühjahr längst wieder geöffnet. Die Tische im Außenbereich einer Bäckerei am Elefantenklo sind besetzt - bis plötzlich ein Auto herangerast kommt. Die Café-Besucher - unter ihnen eine schwangere Frau - springen in Panik von ihren Stühlen. Dass sie nicht verletzt werden, ist laut Oberstaatsanwalt Frank Späth "nur ihrer schnellen Reaktionsfähigkeit zu verdanken". Am Steuer des Fiats saß ein 29-jähriger Deutscher unter Alkohol- und Drogeneinfluss. Bevor der Mann an dem Sommertag den Wagen in die Fußgängerzone lenkte, hatte er sich bereits eine Verfolgungsjagd mit der Polizei durch die Innenstadt geliefert. Wegen "nahezu allen Verkehrsdelikten, die das Strafgesetzbuch bereithält" muss sich der gelernte Groß- und Außenhandelskaufmann am Dienstag vor einem Schöffengericht am Amtsgericht Gießen verantworten. Doch der Prozess fällt mit nur einer Stunde überaus kurz aus. Denn Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung teilen denselben Eindruck: Der Angeklagte, der bis vor wenigen Monaten in Untersuchungshaft saß, hat sich außerordentlich positiv entwickelt. So erhält der vollends geständige Mann wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, Fahren ohne Fahrerlaubnis, Trunkenheit am Steuer und versuchter gefährlicher Körperverletzung lediglich eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten, die über einen Zeitraum von vier Jahren zur Bewährung ausgesetzt wird. Dazu muss er 150 Arbeitsstunden leisten. Schon in 15 Monaten darf er sich um einen neuen Führerschein bemühen.
"Lebensgefährlich"
"Wir wollten Ihnen keine Steine in den Weg legen", sagt die Vorsitzende Richterin Sonja Robe an den 29-Jährigen gewandt. Und sie betont: "Wenn man Sie jetzt sieht, sind Sie kein klassischer Straftäter."
Dennoch hat der Angeklagte - auch das sehen alle Beteiligten so - Menschenleben gefährdet. Der Seltersweg war zum Tatzeitpunkt "stark frequentiert." Anhand der Bremsspur von 21,9 Metern rekonstruierten Gutachter später eine Geschwindigkeit von mindestens 50 Stundenkilometern. "Das war lebensgefährlich für alle Beteiligten - für die Passanten und für Sie", sagt Späth eindringlich. "Wenn da eine Mutter mit Kinderwagen aus dem Karstadt gekommen wäre, hätten Sie die erwischt. Und damit hätten Sie dann leben müssen." Im Blut des 29-Jährigen wurde nach der Tat ein Alkoholgehalt von 0,63 Promille festgestellt, der Amphetamin-Wert war um ein Zehnfaches erhöht. Ein psychiatrischer Sachverständiger ging aufgrund dieser Kombination von einer verminderten Schuldfähigkeit aus.
Der Betäubungsmittelkonsum hatte dem Mann damals offenbar sehr zugesetzt. "Ich dachte, ich habe einen Junkie vor mir", erinnert sich Rechtsanwalt Thomas Kurcab an die Haftvorführung. Nun zeigt sich der 29-Jährige, der inzwischen in einer betreuten Wohngemeinschaft in Wetzlar lebt, gepflegt und reflektiert. In einem "offenen Brief an alle, die ich in Gefahr gebracht habe" hatte er sich bereits rund zwei Wochen nach der Tat "von ganzem Herzen" entschuldigt und ausgeführt: "Ich bin heilfroh, dass niemand bei meiner Irrsinnsfahrt verletzt wurde - physisch und hoffentlich auch psychisch". Mit "klarem Kopf" bereue er das Geschehene zutiefst. "Kein einziger Rechtschreibfehler", bemerkt die Vorsitzende, nachdem sie das eineinhalb Seiten lange Schreiben verlesen hat. Oberstaatsanwalt Späth thematisiert den "vernünftigen Lebenslauf" mit Fachabitur, anschließender Ausbildung und Berufstätigkeit. "Wann ist Ihr Leben so aus dem Ruder gelaufen?" Der eloquente Mann erzählt von einer "schmerzhaften Trennung" rund ein Jahr vor der Tat. "Das hat mich fertiggemacht." Ohne Bleibe habe er letztlich "im Auto gewohnt", seinen Führerschein aber schon im Sommer 2018 verloren - weil er mit Amphetaminen erwischt worden war.
Verfolgungsjagd mit Polizei
Am Tattag wurde zunächst eine Polizeistreife um kurz nach 16 Uhr auf den Angeklagten aufmerksam, weil dieser in der Grünberger Straße stadteinwärts Schlangenlinien fuhr und nicht angeschnallt war. Die Stop-Signale ignorierte der Mann geflissentlich, sodass einer der Beamten an einer roten Ampel in der Ludwigstraße ausstieg und bedeutete, einige Meter weiter rechts ran zu fahren. Stattdessen beschleunigte der Fiat-Fahrer und bog in die Bismarckstraße ein, auch um eine Straftat - das Auto hatte gestohlene Kennzeichen - zu vertuschen. Mit eingeschaltetem Blaulicht nahm der Streifenwagen die Verfolgung durch Goethestraße, Berliner Platz und Neuen Bäue auf. Dabei wechselte der 29-Jährige mehrfach die Fahrspuren, querte teils Gehwege und bog schließlich entgegen der Einbahnstraße in die Johannesstraße ein. Danach steuerte er den Fiat in die Fußgängerzone. Als er bemerkte, dass sich die Polizei bereits in Höhe Karstadt positioniert hatte, leitete der Angeklagte eine Vollbremsung ein und versuchte, zu Fuß zu flüchten.
"Denken Sie, Sie sind ein Verbrecher?", fragt der Oberstaatsanwalt vor seinem Plädoyer. Die Antwort des 29-Jährigen kommt nach einer Atempause. "Nein." In seinem letzten Wort sagt er: "Ich könnte nicht mehr in den Spiegel schauen, wenn jemandem etwas passiert wäre."
Von Jasmin Mosel