Pandemie und Krieg: Psychosomatische Folgen bei Kindern

Viele Heranwachsenden empfinden die Zeit als „verminderte Lebensqualität”, die auch vermehrt zu „funktionellen psychosomatischen Beschwerden” wie Bauch- und Kopfschmerzen oder Einschlafproblemen führte.
© Symbolfoto: dpa

Corona und der Ukraine-Krieg haben viele Kinder belastet. Der Gießener Professor Burkhard Brosig analysiert psychosomatische Folgen und die „Zeitenwende im Kinderzimmer”.

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Gießen. „73 Prozent aller Minderjährigen noch immer durch Corona psychisch belastet”, lautete eine „Spiegel”-Schlagzeile am Donnerstagvormittag, die sich auf einen von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Bericht zu gesundheitlichen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch die Pandemie bezog. Am Abend bestätigte und vertiefte Professor Burkhard Brosig, Kinder- und Familienpsychosomatiker an der Gießener Uniklinik und sozusagen als Mediziner und Psychotherapeut in doppeltem Sinne kompetent, die „erschreckenden Ergebnisse” (Spiegel) der Studie auf eigene Weise. Sein Vortrag „Kindheit inmitten der Krise - Zeitenwende im Kinderzimmer” im Horst-Eberhard-Richter-Institut fand zwar nur zufällig am Tag der Veröffentlichung des Berichts statt, aber die Dauerschleife an Krisen fordert derzeit Tag für Tag die Menschen heraus - immer und somit keinesfalls zufällig auf der Suche nach Erklärung und Erhellung. Das Publikum im voll besetzten Instituts-Saal in der Ludwigstraße bekam denn auch einen zweigeteilten Vortrag geboten, denn längst setzt sich auf die nun langsam sich herauskristallisierenden Corona-Folgen der Krieg in der Ukraine oben drauf - und Brosig wusste kurz und knapp, welche Frage „die Zeitenwende” maßgeblich bestimmt: Wie sage ich es meinem Kinde?

Kindheit findet „inmitten der Krise”

Den Weg zur Beantwortung der wohl alle Eltern umtreibenden Frage begann Brosig, Jahrgang 1957, mit einem Rückblick auf die „Generation Nachkrieg” und der solchermaßen ernüchternden Erkenntnis, dass es nach 1945 „20 bis 30 Jahre gedauert hat, eine Sprache zu finden”. Was den Vortrag denn auch konstituierte, denn eine gewisse Sprach- und Hilflosigkeit grundierte die Ausführungen wie auch die sich anschließende Diskussion. Denn nicht nur die Kindheit findet „inmitten der Krise” statt, auch die Deutung muss nach zwei Jahren der Pandemie mit dem nun unmittelbar anschließenden Kriegsszenario sozusagen in Echtzeit stattfinden. So kam Burkhard Brosig zur Pandemie, die er samt ihrer das soziale Leben zum Erliegen bringenden Maßnahmen als „subtile Form der Verunsicherung und das sich löschblattartige Ausbreiten der Angst” beschrieb. Was dafür sorgte, dass Kinder und Jugendliche noch unbeweglicher, dicker und träger wurden, herbeigeführt durch den „Rücksturz ins Nest”, der in Familien zu vielen Problemen führte. Alles in Allem empfand das Gros der Heranwachsenden die Zeit als „verminderte Lebensqualität”, die auch vermehrt zu „funktionellen psychosomatischen Beschwerden” wie Bauch- und Kopfschmerzen oder Einschlafproblemen führte.

Ein interessanter Aspekt, den Brosig aufgriff, war die vom Gießener Kinderdiabetologen Dr. Clemens Kamrath im Januar 2022 veröffentliche Studie, dass die Autoimmunerkrankung „Typ-1-Diabetes” während der Corona-Pandemie in Deutschland signifikant zugenommen habe, mit einer Inzidenzerhöhung von 15 Prozent im Zeitraum der Pandemie. Wenn auch die abschließenden (medizinisch-validen) Erklärungen noch ausstehen, so bezog sich Brosig als Psychosomatiker dabei auf eine einige Jahre zurückliegende US-Studie, bei der 40 000 Schwangere nachuntersucht wurden, die während der Schwangerschaft einen schweren Verlust erlitten hatten, wie den eines nahen Angehörigen. Deren Kinder hatten eine zwei- bis dreifach höhere Wahrscheinlichkeit an Typ1-Diabetes zu erkranken, ein Argument, so Brosig, für eine „im engeren Sinne angebrachte psychosomatische Betrachtung”.

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Stress also als möglicher Faktor, der auch in der Corona-Pandemie in besonderer Ausprägung zum Tragen kam. Hier spitzt sich in konkreten Auswirkungen das zu, was eine Jugendliche als ihr Fazit der Pandemie der „Neuen Züricher Zeitung” sagte: „Es fehlt quasi eine Seite im Fotoalbum meines Lebens.” Nachgewiesenermaßen 73 Prozent der Kinder und Jugendlichen, so mag man ergänzen, haben nun mit mehr oder minder großen gesundheitlichen Nachwirkungen zu tun, auf die sich seit Februar 2022 die nächste Krise draufsattelt: der russische Angriffskrieg. Für den Burkhard Brosig eindringliche Worte fand, die wohl konstituierend für „die diffuse Angst und Unsicherheit” in der Gesellschaft sind: „Wir wissen ja nicht, wie weit die Ukraine weg ist. Momentan ist sie noch weit weg.”

73 Prozent der Minderjährigen psychisch belastet

Doch der Krieg rückt näher. Angesichts der täglichen Berichterstattung, die bis in die Kinderzimmer vordringt, angesichts aber auch der jetzt schon eine Million Geflüchteten, die bereits für die Gießener Kinderpsychosomatik ein Thema sind, wie Brosig im Umgang mit aus der Ukraine eintreffenden jungen Patienten feststellte: „Die zerrissenen Beziehungen, die Trennung, beispielsweise vom Vater, sind das große Trauma.” Über das Geschehen dort aber herrsche oft Sprachlosigkeit. „Wenn aber Sprache verloren geht, kann eine Verschiebung ins Körperliche folgen.” Stress, der sich den Weg in die Krankheit sucht. So schlug Brosigs Vortrag den Bogen in die deutschen Kinderzimmer.

Denn nach Corona ist mitten im Krieg, was bei dieser Generation zu einer Desillusionierung führen könne, verbunden mit der Frage, „was in meinem Leben gestaltbar und was erreichbar ist?” Am Ende blieb, wie eingangs erwähnt, die Frage: Wie sage ich es meinem Kinde? Vor allem aber, sage ich es ihm überhaupt oder nur, wenn es fragend auf mich zukommt? Burkhard Brosig zeigte sich nach zähem Ringen „eher für das An- und Aussprechen”, auch wenn Prof. Hans-Jürgen Wirth, der zuletzt an gleicher Stelle über die sozialpsychologischen Ursachen und Folgen des Krieges referiert hatte, anmerkte, es gebe gerade auch ein „großes Bedürfnis nach Normalität”. Und dabei „haben wir über die Klimakrise, die uns auch belastet, noch gar nicht gesprochen”, ergänzte eine Zuhörerin. Der Rest war Schweigen. Die Fragen bleiben. Die Belastungen auch.

Von Rüdiger Dittrich