Psychologin der JLU Gießen erklärt Hintergründe zu Corona-Studie

Viele Kinder und Jugendliche gaben an, besonders unter der Homeschooling-Situation zu leiden.  Symbolfoto: Gregor Fischer/dpa

Eine neue Studie belegt, dass die Corona-Krise Kinder seelisch belastet. Im Interview erklärt Christina Schwenck, Professorin für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie an...

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GIESSEN. Auch an den Kleinsten gehen die Corona-Einschränkungen nicht spurlos vorbei. Verwunderlich ist das kaum: Private Kontakte sollen weiterhin heruntergefahren werden, manche Kinder haben Großeltern, Paten oder Freunde mitunter seit Monaten - auch an Weihnachten - nicht gesehen. Hobbys und Freizeitausflüge fallen weg, dafür bestimmen Homeschooling, Wechselunterricht und Maskenpflicht seit knapp einem Jahr den (Lern-)alltag. Wie sehr die Pandemie Sieben- bis 17-Jährige psychisch mitnimmt, haben kürzlich Forscher des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf herausgefunden. Laut ihrer Studie zeigt inzwischen etwa jedes dritte Kind unterschiedlich stark ausgeprägte Auffälligkeiten. Knapp 18 Prozent der Teilnehmenden gab sogar an, durch die aktuelle Situation deutlich belastet zu sein. Christina Schwenck ist Professorin für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU). Im Interview spricht sie über die neue Studie aus Hamburg und erklärt, wie sich die Auffälligkeiten nach Alter und Geschlecht der Kinder unterscheiden, was die Probanden besonders mitnimmt und wann psychologische Hilfe ratsam ist.

Forscher haben in einer Studie des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf festgestellt, dass ein knappes Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie fast jedes dritte Kind psychische Auffälligkeiten zeigt. Was ist darunter zu verstehen?

In der Online-Studie wurden Kinder und Jugendliche im Alter von sieben bis 17 Jahren und ihre Eltern bezüglich Lebensqualität und Symptomen von psychischen Erkrankungen befragt. Die eingesetzten Fragebögen sind sogenannte "Screeningverfahren", das heißt, sie erfassen die Symptome eher grob und sind nicht mit einer klinischen Diagnose gleichzusetzen. Dennoch lassen sie den Schluss auf Auffälligkeiten zu und geben Hinweise darauf, wie stark ausgeprägt diese sind. Die Daten wurden mit den Ergebnissen der bevölkerungs-repräsentativen BELLA-Studie (BEfragung zum seeLischen WohLbefinden und VerhAlten) verglichen, die vor der Pandemie erfasst wurden. Somit ist ein Vergleich möglich und es lassen sich Schlussfolgerungen ziehen.

Wie sehen die Zahlen konkret aus?

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Vor der Pandemie haben 9,9 Prozent der befragten Kinder deutliche psychische Auffälligkeiten angegeben, bei der jetzigen Befragung waren es 17,8 Prozent. Die Auffälligkeiten zeigten sich in nahezu allen Bereichen, also vermehrte Ängste, Traurigkeit, Konzentrationsstörungen und oppositionelle Verhaltensweisen. Auch psychosomatische Probleme wie Kopfschmerzen oder Schlafstörungen sind angestiegen.

Ist damit zu rechnen, dass die Symptome wieder abklingen, wenn sich die Situation entspannt?

Das ist schwer vorauszusehen. Vermutlich wird dies bei einem größeren Teil der Kinder und Jugendlichen der Fall sein, wenn die Belastung durch die Pandemie vorbei ist. Möglicherweise haben sich aber bei einigen Kindern und Jugendlichen die Symptome so manifestiert, dass sie professionelle Hilfe brauchen werden, um diese in den Griff zu bekommen.

Was belastet Kinder besonders?

In der Studie geben viele Kinder und Jugendliche an, unter der Homeschooling-Situation, fehlenden sozialen Kontakten und vermehrten familiären Konflikten zu leiden.

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Welche Unterschiede gibt es in den Altersgruppen?

Die Daten zeigen, dass der Anstieg der Belastung insgesamt für die jüngste Gruppe der Sieben- bis Zehnjährigen stärker war als für die mittlere Altersgruppe (elf bis 13 Jahre). Allerdings zeigen ältere Jugendliche eher Schwierigkeiten im Bereich der Beziehung zu Gleichaltrigen als vor der Pandemie. Auch in Abhängigkeit vom Geschlecht lassen sich Unterschiede finden: Hier zeigen die Jungen mehr Auffälligkeiten über alle Bereiche hinweg, die erfasst wurden, bei den Mädchen konnte vor allem ein Anstieg in den Bereichen motorischer Unruhe und Sozialverhaltensproblemen gefunden werden.

Gibt es (familiäre) Faktoren, die begünstigen, dass Kinder psychisch auffällig werden?

Ja, insbesondere psychosoziale Faktoren scheinen eine Rolle zu spielen. So fällt die Belastung von Kindern und Jugendlichen nochmals größer aus, wenn sie aus Familien mit geringem Bildungshintergrund kommen, in beengten Wohnsituationen zusammen leben, einen Migrationshintergrund haben und ein ungünstiges familiäres Klima besteht.

Ist die Zunahme psychischer Belastungen besorgniserregend?

Ihre gesundheitsbezogene Lebensqualität stuften vor der Pandemie ca. 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen als gering ein, jetzt sind es 40 Prozent. Natürlich ist das für sich genommen schon besorgniserregend. Die Frage wird sein, wie nachhaltig die negativen Effekte sind, wenn wieder Normalität eintritt. Das lässt sich aktuell schwer vorhersagen.

Auf welche Verhaltensweisen sollten Eltern bei ihren Kindern achten?

Insbesondere auf Kinder und Jugendliche, die schon vor der Pandemie mit psychischen Problemen zu kämpfen hatten, sollten Eltern ein Auge werfen. Aber auch bei Kindern, die vorab unbelastet waren, können Ängste, Stimmungsverschlechterungen, Schlafprobleme etc. auftreten. Wichtig ist es, diesen Problemen rechtzeitig entgegenzuwirken, damit sie sich nicht zu einer psychischen Störung ausweiten oder chronifizieren.

Ab wann ist therapeutische Hilfe ratsam?

Wenn ein Kind oder Jugendlicher an der Mehrheit der Tage psychische Auffälligkeiten wie Ängste oder Traurigkeit zeigt und dadurch beeinträchtigt ist, sollte professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden. Dies ist relativ unkompliziert über die therapeutischen Sprechstunden, die kinder- und jugendpsychotherapeutische Ambulanzen und niedergelassene Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten anbieten, möglich. Bei einer solchen Sprechstunde geht es erst einmal nur darum, die Problematik zu schildern und gemeinsam zu entscheiden, ob überhaupt weiter reichende Unterstützung notwendig ist und falls ja, wie diese aussehen kann. Notfallmäßig sollten Kinder und Jugendliche immer in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt werden, wenn sie konkrete lebensmüde Gedanken und Pläne äußern.

Vielen Eltern fällt es mit Fortschreiten der Pandemie vielleicht schwer, ihren Kindern weiterhin Zuversicht zu vermitteln. Ist es angebracht, die eigenen Sorgen und Ängste vor den Kindern zu verbergen?

Nach wie vor ist es angemessen, die Situation zu versachlichen und keine Panik zu schüren, darauf reagieren Kinder sehr sensibel und machen sich umso mehr Sorgen. Natürlich darf man auch als Elternteil äußern, dass man selbst die Situation auch gerade nicht schön findet und sich wünschen würde, dass endlich Normalität eintritt.

Archivfoto: JLU/Wegst

Von Jasmin Mosel