Ingeborg Müller-Neuberger gehörte mit zu den ersten betroffenen Eltern, die Anfang der 80er Jahre laut forderten, die seelische Gesundheit krebskranker Kinder im Blick zu behalten.
GIESSEN. Sie hat Großes erreicht: Ingeborg Müller-Neuberger gehörte mit zu den ersten betroffenen Eltern in Deutschland, die das Thema "krebskranke Kinder" Anfang der 80er Jahre an die Öffentlichkeit brachten und laut forderten, bei der medizinischen Therapie auch die seelische Gesundheit der Kinder im Blick zu behalten: Seit fast 40 Jahren hat sie sich im 1982 gegründeten "Elternverein für leukämie- und krebskranke Kinder Gießen e.V." für die kleinen Patienten und ihre Eltern weit über die Grenzen der Region Gießen hinaus eingesetzt, darunter 37 Jahre als erste Vorsitzende.
Auch Frithjof Buhr, einer der Mitorganisatoren der Tour Peiper und seit sechs Jahren zweiter Vorsitzender, hat sein Amt auf der jüngsten Mitgliedersitzung zur Verfügung gestellt. Mit ihrem Rückzug aus der aktiven Vorstandsarbeit und Übergabe der Geschäfte an den neuen ersten Vorsitzenden, Andreas Hölzle, sowie die neue Stellvertreterin, Mirja Niederhäuser, geht eine Ära zu Ende, in der mehr als 20 Millionen Euro Spendengelder gesammelt wurden.
"Für unsere Kinder gab es damals nur die medizinische Therapie, sonst nichts", erinnert sich Ingeborg Müller-Neuberger an die Zeit Anfang der 80er Jahre. Sie fuhr damals täglich nach Gießen, um wenigstens die erlaubte Besuchszeit auf der Kinderkrebsstation Peiper an der Seite ihrer erkrankten Tochter zu sein. "Wir Eltern haben ganz schnell festgestellt, dass die medizinische Therapie allein für den Genesungsprozess der Kinder nicht ausreicht, sondern auch die psychosozialen Aspekte wichtig sind." Die Idee für den Elternverein war geboren: 1982 gegründet, war er nach Heidelberg und Mannheim der dritte Elternverein für krebskranke Kinder in ganz Deutschland. "Wir haben sofort angefangen, Spendengelder zu sammeln, um die Situation für die betroffenen Familien zu verändern", erzählt Ingeborg Müller-Neuberger weiter. "Von den ersten Spenden haben wir große Stühle gekauft, damit wir Eltern bei unseren Besuchen nicht mehr auf den kleinen Kinderstühlchen sitzen mussten."
Große Spendenbereitschaft
Parallel dazu formierte sich die Tour Peiper, eine Fahrradbenefizveranstaltung, heute bundesweit bekannt als "Tour der Hoffnung". Hier stieg Frithjof Buhr 1984 mit in die Organisation ein: "Für mich war es damals auch eine Therapie", erzählt der heute 71-Jährige. Seine Tochter hatte den Kampf gegen den Krebs auf Station Peiper verloren. "Übernachten durften die Eltern damals nicht bei ihren Kindern, wir mussten täglich fahren", erinnert er sich. Sozialpädagogische Angebote für die Kinder gab es keine, von Angeboten für Geschwisterkinder ganz zu schweigen. "Die Spendenbereitschaft der Menschen war unglaublich, nach drei Touren hatten wir soviel Geld zusammen, dass wir in Gießen nahe der Klinik ein Haus für die Eltern kaufen konnten." 1986 wurde das Familienzentrum in der Friedrichstraße 30 eingeweiht, ein "Zuhause auf Zeit" für betroffene Familien. Es war das Jahr, in dem die inzwischen 82-jährige Ingeborg Müller-Neuberger als erste Vorsitzende in die Vorstandsarbeit einstieg und die Geschicke des Vereins, der auch das geprüfte DZI-Spendensiegel trägt, lenkte - bis heute.
Viel hat sich seitdem verändert: Der Verein richtete ein Spielzimmer auf der Station ein, stellte Sozialpädagogen für die Betreuung der Kinder und ambulante Schwestern für die Betreuung der Familien zu Hause ein. Er finanziert sozialpädagogische Angebote für die Geschwisterkinder, organisiert wöchentlich die Klinikclowns, jährlich Nikolaus und Weihnachtsmann mit Geschenken, selbst Karneval wird auf der dritten Etage der Gießener Kinderklinik gefeiert. Zweimal im Jahr gibt es Feste für ehemalige Patienten und ihre Eltern, viele weitere Aktionen wie die Mutperlen oder die Besuche einer Schmuckdesignerin werden vom Verein organisiert sowie finanziert und laufen über das ganze Jahr.
Umdenken bei Ärzteschaft
In den knapp vier Jahrzehnten seines Bestehens hat der Elternverein mit seiner Arbeit nicht nur die Öffentlichkeit für das damalige Tabuthema Krebs sensibilisieren können, sondern auch in der Ärzteschaft für ein Umdenken gesorgt: "Die Ärzte mussten nämlich erst einmal begreifen, dass die Eltern auf der Station plötzlich mitreden wollten", so Ingeborg Müller-Neuberger. Längst sind Ärzte der Station Beisitzer im Verein oder werden in den Beirat der Gießener Elternstiftung gewählt, die 1993 - nach einer großen Einzelerbschaft - vom Verein zur gewinnbringenden Anlagemöglichkeit gegründet wurde. Und das ist nicht die einzige Erbschaft geblieben, erzählt Ingeborg Müller-Neuberger, seit 1996 auch Trägerin des Bundesverdienstkreuzes.
"Dank der bislang großen Spendenbereitschaft, ist der Elternverein seit Jahren in der Lage, nicht nur die Situation betroffener Kinder, Jugendlicher und ihrer Eltern zu verbessern, sondern auch bedürftige Familien von erkrankten Kindern finanziell zu unterstützen", erzählen Frithjof Buhr und Ingeborg Müller-Neuberger. Ein weiterer Teil der Spendengelder fließt in die kliniknahe Forschung auf dem Gebiet der Leukämie- und Krebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Große Fußabdrücke sind es, die beide ihren Nachfolgern überlassen. Doch die alte Generation geht mit einem guten Gefühl: "Wir wissen, dass der Verein mit Andreas Hölzle und Mirja Niederhäuser in besten Händen ist."
Die beiden neuen Vorsitzenden, selbst betroffene Eltern, übernahmen die Vorstandarbeit auf der jüngsten Mitgliederversammlung des Vereins mit großem Respekt: "Es ist uns eine Ehre." Andreas Hölzle, bereits seit zehn Jahren Mitglied im Verein, und Mirja Niederhäuser, seit zwei Jahren dabei, freuen sich auf ihre neuen Aufgaben: "Die größte Herausforderung wird es sein, die in der Coronazeit stark rückläufigen Spendeneingänge zu kompensieren. Wir bitten Privatpersonen, Vereine und Firmen um Unterstützung, sodass die wertvolle Arbeit des Vereins ohne Einschränkungen fortgeführt werden kann."