Trotz Freispruch am Landgericht Gießen bleiben Zweifel

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Der bewaffnete Raubüberfall auf eine 36-Jährige im Gießener Burggraben konnte der 53-jährigen Angeklagten am Landgericht nicht nachgewiesen werden. Die Umstände bleiben...

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GIESSEN. Auch fast 16 Monate nach der Tat machen die damaligen Ereignisse der heute 36-Jährigen schwer zu schaffen. Immer wieder brach die Friseurin am Dienstag vor der Sechsten Strafkammer des Landgerichts in Tränen aus, als sie schilderte, wie sie Ende Juni 2020 im Burggraben in der Nähe des Stadtkirchenturms hinterrücks überfallen worden war. Und das am helllichten Tage zur Nachmittagszeit. "Ich wurde plötzlich von hinten geschubst und bin dadurch ein bisschen umgeknickt", begann das Opfer. Dennoch konnte sie spüren, wie ihr jemand das Smartphone aus der hinteren Hosentasche zog. Wer das war, sah sie allerdings erst, als diese Person, eine Frau, auf einmal vor ihr stand und ihr ein "rund zehn Zentimeter langes, gezacktes Messer", offenbar ein sogenanntes Jagdmesser, an den Hals hielt. Mit der Drohung, zu wissen, "wo mein Kind zur Schule geht", zwang die Täterin die 36-Jährige, ihr 300 Euro in Scheinen auszuhändigen. Letztere hatte sie just in diesem Moment in der Hand gehalten, um davon 100 Euro ihrer Mutter zu geben, mit der sie sich kurze Zeit später treffen wollte. Doch handelte es sich bei der 53-Jährigen, die am Dienstag wegen Verdacht des schweren Raubes unter Verwendung einer Waffe angeklagt war, tatsächlich um jene Täterin? Diese Frage konnte auch nach dreieinhalb Stunden Verhandlung und fünf befragten Zeugen, inklusive des Opfers, nicht vollumfänglich geklärt werden.

Die Zweifel an der Täterschaft der 53-Jährigen - die auf Anraten ihres Anwalts die gesamte Zeit über schwieg und bei Fragen allerhöchstens mit dem Kopf nickte oder ihn schüttelte - waren letztendlich einfach zu groß. Selbst die Staatsanwältin musste das einräumen: "Es bleibt alles zu sehr im Dunkeln, als dass wir die Angeklagte als überführt ansehen können", sagte sie und beantragte, die Frau freizusprechen. Diesen Ausführungen schloss sich der Verteidiger natürlich nur allzu gerne an. Doch hielt er selbst die von der Staatsanwältin genannten "Restzweifel" hier für nicht gegeben. Dieser Fall sei "mehr als nur 'In dubio pro reo' (im Zweifel für den Angeklagten, Anm. d. Red.). Das hier geht sogar weiter", betonte er. Und forderte neben einem Freispruch für seine Mandantin, dass die Staatskasse zusätzlich die Verhandlungskosten tragen solle.

Die Kammer ging in dem dann vom Vorsitzenden Richter Dr. Johann-Gottfried Lessing verkündeten Urteil noch einen Schritt weiter: Außer Freispruch und Verhandlungskosten-Übernahme wird die 53-Jährige auch für die Wohnungsdurchsuchung entschädigt, die bei ihr erfolgt war. Die Staatsanwältin erklärte schließlich den Rechtsmittelverzicht, sodass der polizeibekannten Frau von hier in dieser Sache keinerlei juristische Folgen mehr drohen.

Kurioserweise hatte die Überfallene selbst den entscheidenden Satz des Tages gesagt: "Die Frau, die hier als Angeklagte sitzt, war es nicht", machte sie bereits nach etwa einer halben Stunde deutlich. Wie sich im weiteren Verlauf herausstellte, kennen sich die beiden Frauen bereits seit einigen Jahren aus der Zeit, als sie in derselben Nachbarschaft wohnten. In den Wochen und Monaten vor der Verhandlung soll es gar zu Begegnungen zwischen beiden gekommen sein, bei denen die mittlerweile in Reiskirchen wohnende Friseurin der Angeklagten angeboten haben soll, diese zu entlasten und ihr einen Gerichtsprozess zu ersparen. Zusätzlich kompliziert wurde das Ganze dadurch, dass das Opfer unter der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, besser bekannt unter dem Kürzel ADHS, leidet, und nach einer früheren Drogenabhängigkeit Methadon einnimmt. In der Drogenszene sollen sich die beiden Frauen auch kennengelernt haben.

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"Hippelig" und "ängstlich"

Dass trotz der klaren Aussage der 36-Jährigen zugunsten der Angeklagten so lange verhandelt werden musste, hatte mehrere Gründe. Zum einen machte sie bei ihren Ausführungen nach Fragen der beiden Richter sowie von Staatsanwaltschaft und Verteidiger einen für ADHS-Kranke typischen "hippeligen" Eindruck - ein Wort, das am Dienstag mehrmals fiel, um ihr Verhalten zu beschreiben; auch von den als Zeugen aussagenden Polizeibeamten, die den Fall damals aufgenommen und die Ermittlungen durchgeführt hatten. Sogar die Friseurin selbst räumte ein, "durch meine Hyperaktivität etwas schusselig und vergesslich" zu sein. Ihre zunächst als Zuhörerin im Saal sitzende Freundin, die sie zum Gericht gefahren hatte und die dann vom Richter kurzerhand zur Zeugin erklärt wurde, bestätigte diese Eindrücke.

Wie der ermittelnde Kriminalhauptkommissar zu berichten wusste, hatte das Opfer die Angeklagte bei der Durchsicht von insgesamt 88 Verdächtigenfotos am Computer noch als Täterin identifiziert. Sie sei in jenem Moment, als sie deren Foto erblickte, "plötzlich ängstlich" und "aufgeregt" gewesen, erinnerte er sich. Offenbar habe sie vor allem Angst vor einer Bekannten der Angeklagten gehabt, so sein Eindruck. Allerdings passt dazu nicht ihre Beschreibung einer "kräftigen Statur" der Täterin, denn die 53-Jährige ist eher zierlich. Außerdem soll es sich um ein älteres Foto von ihr gehandelt haben. Nachfolgenden Kontaktaufnahmen der Polizei ging die Friseurin dann offenbar aus dem Weg, "sie wollte auch nichts unterschreiben", ergänzte der Beamte. Die dreimonatige Nachverfolgung des Smartphones und die Wohnungsdurchsuchung bei der Angeklagten erbrachten jedoch keine Beweise ihrer Schuld.

Bleibt schließlich noch die Frage, wer die Mutter im Juni vergangenen Jahres ausgeraubt hat. Nimmt man die Erkenntnisse vom Dienstag, steht zu befürchten, dass dies so schnell nicht aufgeklärt werden dürfte, wenn überhaupt.

Von Frank-O. Docter