Im Woolrec-Prozess haben am Mittwoch Staatsanwaltschaft und Verteidiger ihre Plädoyers gehalten. Das Spektrum der Forderungen reichte von hohen fünfstelligen Summen bis zu...
GIESSEN/BRAUNFELS-TIEFENBACH. Von hohen fünfstelligen Geldstrafen bis zu Freisprüchen für die Angeklagten Edwin F. und Stefan G. reicht das Spektrum, welches die zwei Staatsanwälte und drei Verteidiger mit ihren Plädoyers aufgemacht haben. Sieben Jahre nach der Schließung der Faserfirma Woolrec und 21 Monate nach Prozessbeginn fand am Mittwoch der vorletzte Verhandlungstag am Landgericht Gießen statt. Am 24. Oktober spricht die 7. Große Strafkammer unter Vorsitz von Richter Heiko Söhnel die Urteile.
Unzählige Zeugenvernehmungen, Aktensichtungen, ein Sachverständigengutachten und eine Filmvorführung liegen seit dem Auftakt Ende Januar 2018 hinter den Prozessbeteiligten. Danach besteht für die Staatsanwälte Fabian Hohl und Matthias Rauch kein Zweifel daran, dass sich Ex-Woolrec-Geschaftsführer Edwin F. des vorsätzlichen unerlaubten Umgangs mit Abfällen in 56 Fällen schuldig gemacht hat. Die Ankläger forderten, ihn dafür zu einer Gesamtgeldstrafe von 600 Tagessätzen à 35 Euro (21 000 Euro) zu verurteilen. Für Stefan G., der als externer Gutachter für das Qualitätsmanagement bei Woolrec verantwortlich war, forderten sie wegen Beihilfe in ebenfalls 56 Fällen 390 Tagessätze à 150 Euro (58 500 Euro). Das Strafmaß hätte bei fünf Jahren Freiheitsstrafe geendet.
Noch vor dem Plädoyer der Ankläger gab Stefan G. eine Erklärung ab. Darin schob er die Verantwortung maßgeblich dem RP Gießen zu. Technisch sei er nie dazu in der Lage gewesen, die einzelnen Inhaltsstoffe wie Ton oder Melasse im Fasergemisch Woolit mengenmäßig zu bestimmen, so wie im Produktanerkennungsbescheid von 2003 verlangt. Darauf habe er die Aufsichtsbehörde mehrfach hingewiesen, so Stefan G..
Behörde soll Satz in Berichten eingefordert haben
Eine zunächst angedachte Verbesserung der Analyse sei durch das RP nicht weiter verfolgt worden. Stattdessen sei er von Behördenmitarbeitern aufgefordert worden, seine monatlichen Qualitätsberichte jeweils um den Satz "Rezeptur wurde eingehalten" zu ergänzen. Obwohl bekannt gewesen sei, dass er allein die Faserfreisetzung und den Wassergehalt überprüft habe, so Stefan G.: "Das mengenmäßige Verhältnis hat keine Rolle mehr gespielt." Auf dem Vorwurf, Woolrec sei heimlich von der vorgeschriebenen Rezeptur abgewichen und Stefan G. habe dies durch seine Gutachten gedeckt, fußt das Verfahren.
Staatsanwalt Fabian Hohl blieb unbeeindruckt. Er sieht alle Anklagepunkte als weitgehend bestätigt an. "Je kleiner, desto gefährlicher", gelte für künstliche Mineralfasern, erklärte Hohl. Besonders ältere Dämmstoffe, hergestellt vor 1996, wie sie in Woolit verarbeitet wurden, könnten krebserregend sein.
Um das Gemisch aus Fasern, Ton, Melasse und später zunehmend Wasser, aber auch Emaille- und Glasabfällen sowie Filterstäuben für die Ziegelindustrie "schmackhaft" zu machen, habe der damalige Firmenchef die Produktzulassung beim RP Gießen beantragt. Den Produktanerkennungsbescheid gab es 2003. Ein zweiter Bescheid folgte 2006, als die Woolit-Form verändert wurde: Statt gepresst wurde das Gemisch in matschiger Form ausgeliefert. Zur Herstellung hätten keinerlei Standards existiert, so der Staatsanwalt. Der Tonanteil habe nicht einmal die Hälfte der vorgeschriebenen Mindestmenge erreicht.
Anders als angegeben, hätten die abnehmenden Ziegeleien nichts für Woolit bezahlt. Der verlangte positive Marktwert sei von Beginn an fingiert gewesen, erklärte Hohl. Haupteinnahmequelle für Woolrec sei die Abfallannahme gewesen. Der Gutachter habe - anders als behördlich gefordert - allein die Faserfreisetzung untersucht. Hohl: "Alles andere war erfunden und manipuliert." Dazu seien auch Grenzwerte bei der Faserfreisetzung um ein Zigfaches überschritten worden.
Die Tatvorwürfe gegen ihre Mandanten könnten nicht aufrecht erhalten werden, machten alle drei Verteidiger - Anne-Louise Schümer und Oliver Kippel für Edwin F. und Georg Strittmatter für Stefan G. - deutlich. Sie forderten Freisprüche. Der angebliche Umweltskandal habe nicht festgestellt werden können, sagte Schümer. Auch nach Abschluss der Beweisaufnahme stehe die tatsächliche Woolit-Beschaffenheit nicht fest. Massive Kritik traf den gerichtlich eingeschalteten Sachverständigen. Weil er Proben weder ordnungsgemäß noch an den richtigen Stellen genommen habe.
Hinzu kommt für die Verteidigung, dass die Aufsichtsbehörde das Abweichen von der Rezeptur "geduldet" habe. Schümer sprach von "kooperativem Verhalten".
"Exit-Strategie" gegen den "Schwarzen Peter"
Obwohl dem RP Gießen die tatsächliche Woolit-Zusammensetzung bekannt gewesen sein dürfte, sei die Behörde zwischen 2007 und 2012 untätig geblieben. Und erst nach der Fernsehberichterstattung über den "Woolrec-Skandal" ab dem Frühjahr 2012 eingeschritten. Als "Exit-Strategie" bezeichnete das Strittmatter. Das RP habe verhindern wollen, dass ihr der "Schwarze Peter" zugeschoben wird. Das Strafverfahren habe eine gesellschaftspolitische Komponente, sagte Kipper. Er appellierte an das Gericht, sich nicht politisch instrumentalisieren zu lassen.
Abschließend gab Stefan G. erneut eine Erklärung ab. Sein Schlusssatz: "Ich fühle mich weiterhin nicht schuldig." Durch das Woolit-Verfahren und die erstmals ungefährliche Entsorgung von künstlichen Mineralfasern sei zum "nachhaltigen Wohle der Umwelt" beigetragen worden.