Die Familie des Vaters, Jahrgang 1925, floh aus Oberschlesien, die Mutter wurde als 16-Jährige mit ihren Angehörigen aus dem Sudetenland vertrieben. Gesprochen wurde darüber kaum.
. Allendorf/Lda./Fernwald. Flucht und Vertreibung. Für Millionen Deutsche aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches war das in den Monaten vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Realität. In der Familie der Steinbacherin Heike Habermann wurde beides erlebt: Die Familie des Vaters, Jahrgang 1925, floh aus Oberschlesien, die Mutter wurde als 16-Jährige mit ihren Angehörigen aus dem Sudetenland vertrieben. Doch thematisiert wurden die Erlebnisse später kaum. "Man hat einfach nicht darüber gesprochen", erzählt die Steinbacherin. Vor gut drei Jahren machte sie sich daher auf Spurensuche und stöberte in alten Akten. "Ich wollte rausfinden, was damals war. Plötzlich war es ganz nah." Denn auf einer Transportliste entdeckte sie die Namen ihrer Mutter, Tante, Großmutter und den Urgroßeltern. Die Familie wurde im Mai vor 74 Jahren vom tschechischen Chodau über zwei Zwischenlager ins Erstaufnahmelager in Gießen gebracht.
Ihre Eltern kann Habermann nicht mehr fragen, beide sind bereits verstorben. Die Tante, zum Zeitpunkt der Vertreibung gerade acht Jahre alt geworden, lebt heute in der Nähe von Marburg. In Chodau besaß die Familie ein Haus, die Urgroßeltern betrieben eine Konditorei. Den Großteil ihres Besitzes musste die Familie zurücklassen. "Sie hatten die Aufforderung, mit ihrem Gepäck am 17. Mai 1946 - das war einen Tag nach dem achten Geburtstag meiner Tante - morgens um 5 Uhr am Bahnhof zu sein." Der Großmutter wurde der Ehering vom Finger gezogen, der Tante ihre Puppe "Bärbel" weggenommen. Die wenigen Habseligkeiten, die die Familie mitnehmen konnte, passten in eine Holztruhe. Heute steht diese bei Habermann in der Wohnung.
In den Lagern wurden die Vertriebenen nach Läusen und Wanzen abgesucht und von Gießen aus per Lkw auf die Dörfer verteilt. Die Mutter von Habermann wurde zusammen mit ihrer Familie in Allendorf/Lumda untergebracht. "Als meine Großmutter dort den ersten Misthaufen erblickte, hat sie ausgerufen: 'Kinder, hier bleiben wir keine vier Wochen'. Man kam ja aus der Stadt."
Einquartiert wurden sie zuerst bei der Gärtnerei Opitz. Zu dritt lebten sie in einem Zimmer, Großmutter und Tante halfen in der Gärtnerei bei der Feldarbeit. Die Mutter arbeitete "auf der Bürgermeisterei" und ging nach Feierabend mit aufs Feld. "Zu essen gab es kalte Kartoffeln, die zum Teil schon faul waren, mit schwarzem Kaffee." Die entbehrungsreiche Zeit hat geprägt: "Erlebt doch mal einen Krieg", habe die Mutter später gesagt, wenn Habermann und ihre Geschwister die Teller nicht leer essen wollten.
Ihr Vater war 20 Jahre alt, als der Krieg endete. Der junge Mann hatte in der Wehrmacht gedient und machte sich nach 1945 auf die Suche nach seiner Familie, die mit dem Pferdewagen in einem Treck aus Oberschlesien geflohen und ebenfalls in Allendorf untergekommen war. Dort hatte Habermanns Vater, der zunächst im Hamburger Raum unterwegs war, sie nach langer Suche gefunden. Und dort lernte er seine spätere Frau kennen, geheiratet wurde in der dortigen Kirche. Wie es die Familie nach Allendorf verschlagen hatte, konnte Habermann nicht rekonstruieren. Der Vater fand eine Stelle bei den amerikanischen Besatzern, die Mutter arbeitete als Verkäuferin bei Heibertshausen.
Geredet habe ihr Vater über die Kriegsjahre später kaum, erinnert sich die 63-Jährige. "Er wollte das nicht mehr wissen. Einerseits hat er immer wieder daran denken müssen, andererseits war das Leben danach, mit dem Aufbau unserer Familie und der Arbeit beim Zoll, wesentlich wichtiger." Als ihr Vater dement wurde, habe er angefangen, Polnisch, Russisch und Englisch zu sprechen und den Lärm eines Maschinengewehrs nachzuahmen. "Auf alten Fotos vor dem Krieg ist er als fröhlicher Junge in Kniestrümpfen zu sehen", erzählt Habermann. "Was haben die nur aus ihm gemacht?"
Während ihr Vater die alte Heimat nie wieder sah, besuchte Habermanns Mutter nochmal eine Tante in Chodau. "Dort war alles nicht mehr wie zuvor. Das tat ihr sehr weh", erzählt die Tochter. Das Heimweh ihrer Mutter habe sie auch Jahre nach der Vertreibung noch spüren können. Als vor fünf Jahren über die Aufnahme von Geflüchteten in Fernwald diskutiert wurde, musste Habermann an ihre eigene Familiengeschichte denken: "Was sie erlebt haben, haben unsere Eltern zum Teil auch erlebt." Weshalb flüchtlingsfeindliche und rassistische Aussagen in Teilen der Bevölkerung auf offene Ohren stoßen, kann die Steinbacherin nicht nachvollziehen. "Jeder, der die Erfahrung von Flucht und/oder Vertreibung in seiner Familie gemacht hat, sollte es besser wissen."
Von Eva Pfeiffer