Der letzte Zeitzeuge: Ex-Staatsanwalt Gerhard Wiese kommt nach Lich

FRANKFURT/LICH - Die im Jahr 1963 begonnenen Frankfurter Auschwitz-Prozesse sorgten für die juristische Aufarbeitung des Massenmords an Hunderttausenden Juden - und hatten eine weit über die Strafe hinausgehende Bedeutung. Diese Gerichtsverfahren sind ein Meilenstein der deutschen Nachkriegsgeschichte, weil sie der Bevölkerung in aller Klarheit bewusst machten, welche barbarischen Verbrechen sich hinter den Toren des Vernichtungslagers zutrugen. Gerhard Wiese war damals ermittelnder Staatsanwalt, heute ist er der wohl letzte lebende Zeitzeuge dieses historischen Ereignisses. Am Sonntag, 10. November, ist er um 12 Uhr zu Gast bei einem Filmgespräch im Licher Kino Traumstern, wenn dort "Im Labyrinth des Schweigens" gezeigt wird. Zuvor war unsere Zeitung zu Gast bei dem bis heute in Frankfurt lebenden 91-Jährigen.

Vor wenigen Jahren haben sich gleich zwei viel beachtete Spielfilme sowie eine Dokumentation mit dem Leben und Wirken des legendären hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer(1903 -1968) befasst. Einer davon ist der nun in Lich präsentierte "Im Labyrinth des Schweigens", bei dem Gerhard Wiese den Filmemachern beratend zur Seite stand. Doch warum hat es überhaupt so lange gedauert, bis sich filmisch mit diesem bedeutenden Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte auseinandergesetzt wurde? Kann man seine Bedeutung jetzt erst richtig einordnen?

"Ohne Frage", antwortet der gebürtige Berliner. "Ich bin der Meinung, die Deutschen waren damals, in den Wiederaufbaujahren zufrieden, dass da zunächst einmal SS-Leute vor Gericht gestellt wurden", erklärt er. Denn auf die großen Nürnberger Prozesse, in denen zwischen 1945 und 1949 die Hauptkriegsverbrecher um Göring, von Ribbentrop und Speer verurteilt wurden, folgten noch zwölf weitere Militärgerichtsprozesse, in denen führende Köpfe aus Institutionen wie dem Auswärtigen Amt oder der Ärzteschaft verurteilt wurden. "Die Besatzungsmächte haben das ja alles erledigt", sagt der Jurist.

Hellsichtiger Fritz Bauer

Wiese, der selbst als 16-jähriger Flakhelfer bei Kriegsende in Gefangenschaft geriet, erinnert an Konrad Adenauers Schlussstrichpolitik. So habe auch die Bevölkerung zunächst keine Notwendigkeit gesehen, sich weiter mit dem Thema auseinanderzusetzen. Zudem habe es damals ja auch ganz andere, drängende Probleme gegeben: "Hunger, zerbombte Häuser, Männer in Kriegsgefangenschaft, Arbeitslosigkeit", erinnert der 91-Jährige.

Doch Fritz Bauer, der hessische Generalstaatsanwalt, erwies sich als überaus hellsichtig, als er die juristische Aufarbeitung des Holocausts nach Frankfurt holte - gegen Widerstände im eigenen Apparat. "Keiner wollte so ein großes Verfahren von Gerichtsseite aus an Land ziehen", erklärt Gerhard Wiese. "Viel zu groß, viel zu wenig Zeit, viel zu wenig Personal. Was Behördenleiter aus Selbsterhaltungsgründen eben so sagen." Doch Bauer setzte sich, unterstützt von Hessens Ministerpräsident Georg-August Zinn, gegen alle Widerstände durch. Bauer, "der General" genannt, stellte ein Team mit den Staatsanwälten Joachim Kügler und Georg Friedrich Vogel zusammen, denen er Wiese zur Verstärkung zuteilte.

Der junge Jurist war zuvor in Fulda und in Offenbach eingesetzt und hatte dort ganz normale Strafsachen zu bearbeiten, bevor er 1961 nach Frankfurt kam. "Als ich Vogel und Kügler zugeteilt wurde, ahnte ich nicht, was da auf mich zukommt, und ja, damit war mein Schicksal besiegelt", lacht der erstaunlich rüstige Frankfurter, der heute regelmäßig in Schulen unterwegs ist, um von den historischen Ereignissen zu berichten.

Was sagte ihm damals der Begriff Auschwitz? "Ich wusste, die Kollegen sind in dieser Sache tätig", antwortet Wiese. "Aber Einzelheiten kannte ich nicht." Erst als die Akten auf seinen Tisch kamen, wurde ihm die Tragweite des Verfahrens bewusst. Es gab 60 Aktenbände, hinzu kamen Sonderhefte für jeden Beschuldigten, Vernehmungen, Zeugenaussagen und gerichtliche Voruntersuchungen - so hat sich der junge Staatsanwalt in den Stoff eingearbeitet und vom täglichen, vom alltäglichen Massenmord in Auschwitz erfahren.

"Vor allem die ersten Wochen waren hart", erinnert er sich. "Wenn sie von morgens bis abends nur Mord und Totschlag vor sich haben. Wenn sie lesen, wie der Tagesablauf in Auschwitz war." Um sich vor dem Grauen zu schützen, entwickelte er Routinen, stürzte sich in die Arbeit. "Ich vergleiche das immer mit einem Arzt: Da geht ein inneres Schutzschild runter. Anders geht es gar nicht, sonst wird man verrückt."

Im Spielfilm kommt der Widerstand hinzu, dem sich der unbequeme Sozialdemokrat und Jude Fritz Bauer im Apparat der Staatsanwaltschaft ausgesetzt sah. Und es gibt ein berühmtes Zitat, das auch für das Leinwanddrama aufgegriffen wurde: "Wenn ich mein Büro verlasse, begebe ich mich in Feindesland", bekannte der illusionslose Jurist angesichts der vielen Altnazis in seiner Umgebung. Hat denn auch Wiese solche Widerstände erlebt? Er verneint, und auch das Zitat ist nicht mit letzter Sicherheit verbürgt, gibt er zu bedenken. "Man konnte die Quelle nicht mehr befragen, weil sie schon vor langer Zeit verstorben ist. Wir wissen es also nicht." Allerdings waren ein Großteil der Mitarbeiter Bauers Staatsanwälte, die schon vor 1945 in der Behörde gearbeitet hatten. Doch sie wurden alle überprüft und haben auch Bauer zugearbeitet, sagt Gerhard Wiese. Von innerem Widerstand oder offener Konfrontation hat er nichts mitbekommen. Nur manchmal haben ihn Kollegen gefragt: Wann werdet ihr denn endlich fertig?!" Für Wiese sprach aus solchen Kommentaren eher ein gewisser Neid, weil er und seine Kollegen nicht mit üblichen Alltagsroutinen befasst waren und für die anderen nicht recht zu greifen war, welche Aufgaben sie zu meistern hatten. Warum er selbst von Bauer ausgewählt wurde, ob der Chef ihn als loyal einstufte, kann er auch heute nicht beantworten.

Bauer hat seine Behörde dann nach und nach verjüngt und mit neuen Kollegen besetzt. Und wie hat Wiese selbst seinen berühmten Chef erlebt? "Er wollte seine Referendare persönlich kennenlernen und bestellte sie zu Gesprächen zu sich", erzählt er. "Eines Tages saß ich also oben in seinem verräucherten Dienstzimmer. Als er hörte, dass ich auch aus Berlin bin, fragte er: ,Was wird aus der Gedächtniskirche?' Das war damals heiß umstritten", erinnert sich der 91-Jährige. Auf seine Antwort, das gesamte im Krieg zerstörte Ensemble müsse wieder aufgebaut werden, erntete er die Antwort: "Quatsch! Das muss weg, da muss etwas Neues hin." So beschreibt ihn der Untergebene heute: Er konnte impulsiv sein, war auch sehr offen. Und der Kontakt mit der Jugend lag ihm am Herzen. "Allerdings fanden seine Vorstellungen in der Strafjustiz wenig Beifall, viele Freunde hatte er wohl nicht." Der spätere Oberstaatsanwalt glaubt, Ministerpräsident Zinn hielt Bauer den Rücken frei. Dass er Adolf Eichmann aufspürte und die Information an den Mossad weitergab, "war ja tatsächlich top secret, wir wussten alle nichts davon". Eichmann in Frankfurt vor Gericht - das hätte er sich allerdings auch gut vorstellen können. "Aber das wäre bestimmt verhindert worden. Denn wenn er ausgepackt hätte, hätten manche ganz schön dumm ausgesehen. Diejenigen, die ja angeblich von nix wussten und nichts damit zu tun gehabt haben wollen."

Fritz Bauer, und das war seine historische Leistung, wollte zeigen, dass die Täter inmitten der Gesellschaft lebten. Es ging ihm weniger um Bestrafung oder gar Rache, sondern um den Gedanken der Aufarbeitung - was sich im Nachhinein als visionär herausgestellt hat.

Wiese selbst war überrascht, wen er da im Gerichtssaal vor sich sah: vermeintlich "stinknormale Leute!" Oswald Kaduk etwa, für den er die Anklageschrift verfasst hatte. "Das war ein großer starker Mann, der nach dem Krieg und anderthalb Jahren in russischer Gefangenschaft in Berlin als Krankenpfleger arbeitete. "Papa Kaduk" nannten ihn die Patienten, er war geschätzt und beliebt. In der Hauptverhandlung nahm er eine stramme Haltung an, antwortete knapp und zackig: "Nein, Herr Vorsitzender, ich habe diese Taten nicht begangen." Die anderen haben sich ähnlich verhalten.

Biedere Mitbürger

Welchem Typus Mensch stand der Staatsanwalt da also im Gerichtssaal gegenüber? "Einer Ansammlung biederer Mitbürger. Es war an ihnen nichts Auffälliges. Sie kamen aus der Mitte der Gesellschaft. Da waren der Bankangestellte, der Apotheker, die Ingenieure, der Kioskbesitzer", zählt Wiese auf. Und genau das machte den Prozess so bedeutend: Auf der Anklagebank saß ein Querschnitt der deutschen Gesellschaft.

Für Gerhard Wiese ist der Auschwitz-Prozess aus heutiger Sicht ein Markstein der Geschichte, der eine unumstößliche Tatsache ans Licht brachte. "Keiner konnte mehr sagen: Das gab es nicht. Obwohl es offenbar immer noch Leute gibt, die es nicht wahrhaben wollen." Für ihn selbst, der 1993 in den Ruhestand ging, und 2017 das Bundesverdienstkreuz am Bande von Bundesaußenminister Heiko Maas erhielt, ist klar: "Das Thema muss immer wieder in die Köpfe rein." Und deshalb ist er nicht nur morgen in Lich zu Gast, sondern hat auch für das kommende Jahr schon wieder einige Termine an verschiedenen Schulen vereinbart, an denen er über den Auschwitz-Prozess sprechen wird. "Denn ich habe ja die Unsterblichkeit gepachtet", lacht der so sympathische wie beeindruckende Frankfurter.