Dorf-App des Landkreises Gießen geht bald an den Start
Unter dem Motto "Vernetzt, wo man verwurzelt ist" gibt es für Königsberg, Oppenrod, Harbach, Dornholzhausen und Treis ab 14. Oktober eine eigene Dorf-App.
Von Ingo Berghöfer
Treis ist eines von fünf "Digitalen Dörfern" im Landkreis. Ab 14. Oktober wird es eine eigene App geben. Fotomontage: Glassl, Fotos: scharfsinn86 - stock.adobe.com; Lemmer
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KREIS GIESSEN. Die Not war groß im Dorf, als die Molkerei die Milchsammelstelle schloss. Die Zahl der Bauern, die allabendlich ihre Milchkannen mit dem Handwagen herankarrte, war langsam, aber stetig zurückgegangen und die letzten Vollerwerbslandwirte hatten sich eigene Milchtanks angeschafft, die nur noch alle paar Tage direkt am Hof entleert wurden. Strukturwandel nennt man das. Der Grund aber, warum die Menschen im Dorf (in diesem Fall meist Männer) der Sammelstelle nachtrauerten, war der Wegfall des wahren Dorfzentrums. Nicht beim Bäcker oder im Bürgerhaus kam man zusammen, um über die Ernte, Wetter oder Politik zu fachsimpeln und den neuesten Dorfklatsch auszutauschen, sondern allabendlich am "Milchheisje". Nun ist es gerade der Strukturwandel, der das alte Milchhäuschen zurück ins Dorf bringt - heute natürlich in digitaler Form als App.
Unter dem Motto "Vernetzt, wo man verwurzelt ist" geht die Dorf-App am 14. Oktober in fünf Testgemeinden im Landkreis an den Start. In Königsberg, Oppenrod, Harbach, Dornholzhausen und Treis können die ersten Bürger die Basisfunktionen des Programms ausprobieren und anschließend nicht nur Verbesserungsvorschläge machen, sondern auch eigene neue Funktionen vorschlagen. "Die Dorf-App ist kein fertiges Produkt, das den Menschen übergestülpt wird, sondern von diesen selbst mitgestaltet werden kann und soll", erläutert Projektmanagerin Sabine Köhler-Lindig von der "Fabrik 19", die das von Landrätin Anita Schneider angeregte Pilotprojekt "Digitale Dörfer" auf technischer Seite in die Tat umsetzt. Schneider war es wichtig, dass das Entwicklerteam in Gießen gemeinsam mit ihnen passgenaue Lösungen findet. Die können von Dorf zu Dorf sehr variieren. Wenn alles gut läuft und die App in den Testgemeinden angenommen wird, könnte das Angebot später auf den ganzen Landkreis ausgeweitet werden. In der Basisversion bietet die App ein digitales Schwarzes Brett, an dem man Nachbarschaftshilfe oder Mitfahrgelegenheiten anbieten und suchen kann. Vereine können über ihre Aktivitäten und Termine informieren, und auch die aktuellen Apotheken-Notdienste in ihrer Umgebung finden. Dazu gibt es Unwetterwarnungen oder aktuelle Infos aus der Kommune - auch vom Medienpartner der Dorf-App, dem Gießener Anzeiger.
Dazu kommt noch eine Chat-Funktion, mit der man - wie einst am Milchhäuschen - den aktuellen "Dorffunk" verbreiten kann. Eigentlich sollte die App bereits einen Monat früher starten, die Verzögerung lag zum einen am guten Feedback der Bevölkerung, zum anderen an einem kniffligen Problem. Stichwort: barrierefrei, aber sicher. "Zum einen wollen wir den Anmeldevorgang so einfach wie möglich halten, zum anderen aber sicherstellen, dass wirklich nur die Menschen die App nutzen können, für die sie auch gedacht ist", erklärt der Projektleiter des Landkreises Gießen, Norman Best. Um das zu gewährleisten, beginnt der Weg ins digitale Dorf mit einem altmodisch-analogen Brief, den der User aus der App heraus anfordern muss. In diesem verschickt der Landkreis einen individuellen QR-Code für jeden Bürger. Der muss dann nur noch eingescannt werden und fertig.
Für Projektleiter Best ist es wichtig, mit der App alle Dorfbewohner zu erreichen. Deshalb wird es für jeden der fünf Testorte eine eigene Internetseite geben. Manche mögen einwenden, dass gerade ältere Menschen in ländlichen Regionen vielleicht mit solch einem digitalen Angebot überfordert sein könnten. Das dürften aber selbst auf dem Land nur noch die wenigsten sein. Die Zahlen sind da eindeutig. Schließlich besitzen mittlerweile 90 Prozent der bis 50-Jährigen ein eigenes Smartphone. Und auch bei den Ü 50 ist es bereits fast die Hälfte.
Die App in Zahlen: Zwei Entwickler haben in Gießen mithilfe zugezogener Experten das rund 254 000 Euro teure Projekt entwickelt. 165 000 Euro davon kommen aus einem Fördertopf der Europäischen Union.
Bereits in dieser frühen Phase plant das Entwicklerteam, die App in jedem Dorf an dessen spezifische Gegebenheiten anzupassen. "In Dornholzhausen wollen wir beispielsweise den dort bereits vorhandenen umfangreichen Vereinskalender integrieren", berichtet Best. Die Corona-bedingt ausgefallenen Bürgerversammlungen sollen in einer späteren Phase II nachgeholt werden. Hier sollen die Bürger selbst ihre Ideen für ihre Dorf-App beisteuern und diskutieren können. Bis dahin soll in jedem Dorf mit einem Info-Stand für die - übrigens kostenlose - Dorf-App geworben werden, Interessierte können sie dort gleich freischalten.
Köhler-Lindig betont, dass man die Hürde für den Sprung ins digitale Dorf bewusst niedrig setzen will. Die App ist abwärts kompatibel bis Android 7.0 und iOS 10. Die Kreisvolkshochschule wird zudem in Kooperation mit dem Landkreis auch Schulungen anbieten, die die ältere Generation an die moderne Technik heranführen soll.
In jedem der fünf teilnehmenden Dörfer gibt es eine vom Ortsvorsteher geleitete Steuerungsgruppe, die Kontakt zu Ortsbeiräten, Vereinen, Seniorenbeiräten und Initiativen aufgenommen hat. Rund 60 Testnutzer haben die App in den vergangenen Wochen auf Herz und Nieren geprüft und ihr Feedback gegeben, das für einige Verbesserungen gesorgt hat. "Je mehr Testpersonen, desto besser", betont Best. Ende des Jahres soll dann eine erste Bilanz gezogen werden.
Der Landkreis hofft, dass das werbefreie Projekt, das gezielt das Ehrenamt ansprechen und stärken will, auch nach dem Ende der zweijährigen Förderphase weiterfinanziert wird. Dazu wird man mit den Kommunen ins Gespräch kommen.
Technisch sind die Möglichkeiten der App jedenfalls noch lange nicht ausgereizt. Die Verantwortlichen wollen in einem nächsten Schritt prüfen, wie sie Angebote zur Grundversorgung abbilden können.
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Weitere Informationen unter www.dorfleben.lkgi.de
Dieser Artikel wurde ursprünglich am 08.10.2020 um 07:20 Uhr publiziert.