Der Prozess um die bewaffnete Bedrohung eines Gießener Taxifahrers durch einen Watzenborner im August 2019 nahm am Donnerstag einen unerwarteten Verlauf. Damals war der Streit...
. WATZENBORN/GIESSEN. Vor Prozessbeginn schien die Sache eigentlich recht klar zu sein: Ein heute 44-Jähriger aus Watzenborn soll am 17. August 2019 um kurz nach Mitternacht in der Schumannstraße einen mittlerweile 62-jährigen Taxifahrer aus Gießen mit vorgehaltener Schreckschusswaffe bedroht und dabei unter starkem Alkoholeinfluss gestanden haben. Der Auslöser für diese Eskalation waren offenbar 6,80 Euro, die der Taxikunde zu wenig hatte, um für seine Fahrt vom Gießener Stadtfest in den Pohlheimer Ortsteil zu bezahlen. Stattdessen verfügte er damals nur über einen 20-Euro-Schein. Am ersten Verhandlungstag des Amtsgerichts stand am Donnerstagmorgen auf einmal Aussage gegen Aussage. "Dieser Mann lügt wie gedruckt", zeigte der Verteidiger in Richtung des selbstständigen Taxiunternehmers. Der wiederum bezichtigte den 44-Jährigen der falschen Darstellung des Tathergangs, für den es keine Zeugen gibt.
Im weiteren Verlauf der Verhandlung brachte der Verteidiger dann das Taxameter ins Spiel: Ob das Gerät denn damals die Summe der Fahrt abgespeichert habe, wollte er von dem 62-Jährigen wissen, zumal der Anwalt dessen Schilderung anzweifelte. Und schriftlich, etwa für die Steuern, hatte der Mann die angeblichen Fahrtkosten von 26,80 Euro nicht festgehalten und auch keine Quittung darüber angefertigt. Daraufhin stellte sich heraus, dass der Taxifahrer zwischenzeitlich einen Unfall mit Totalschaden hatte und danach außer seinem Auto auch das Taxameter mit einem moderneren Gerät ersetzte. Das vorherige sei nämlich "ein altes Modell" gewesen, das nicht einmal über einen sogenannten Wegstreckenzähler verfügt habe, wie er heute wohl üblich ist. In diesem Zusammenhang berichtete der Taxiunternehmer, neben dem ausrangierten Gerät auch noch ein zweites, ebenfalls nicht mehr genutztes "in meiner Garage" aufzubewahren.
Taxameter beschlagnahmt
Dies alles veranlasste Richter Jürgen Seichter, die "schnellstmögliche" Beschlagnahmung beider Taxameter noch am Donnerstagmittag anzuordnen, damit sie ein Sachverständiger auswerten kann. Und so ließ er über die Staatsanwältin eine Polizeistreife losschicken, die den 62-Jährigen nach dessen Rückkehr zu Hause antreffen sollte, um sich die beiden Geräte aushändigen zu lassen. Der Taxifahrer wiederum versprach, sofort nach Verhandlungsende den Heimweg anzutreten. Und tatsächlich hatte er es dann beim Verlassen des Gerichtsgebäudes ziemlich eilig.
Die Aussagen von Fahrer und Kunde über den Verlauf der Ereignisse in jener Nacht weichen teils stark voneinander ab. Während der 44-Jährige darauf pocht, vor Fahrtbeginn "einen Festpreis von 20 Euro" vereinbart zu haben, da er damals nicht mehr Geld in der Tasche hatte, erklärte der 62-Jährige, die Fahrt sei durch einen Zwischenhalt an einem Imbiss in Gießen teurer geworden. Zudem behauptet Letzterer, dass der körperlich größere Angeklagte die Schreckschusswaffe - die jedoch ungeladen war und am Tag nach der Tat von der Polizei sichergestellt wurde - von oben in Richtung seines Kopfes gehalten habe. Wohingegen der 44-Jährige schilderte, sie nicht direkt auf den Taxifahrer, sondern nach unten gerichtet zu haben. Dabei soll er gesagt haben: "Hau' ab oder ich knall' Dich ab", wie auch die Staatsanwältin aus dem Polizeiprotokoll zitierte.
Der Fahrer hatte zudem schon kurz nach der Auseinandersetzung mit seinem Handy das Auto des Angeklagten - daraus hatte dieser die Waffe hervorgeholt - und den Briefkasten dessen Wohnhauses gefilmt, um Beweise zu haben. Doch auch das Anschauen dieser Aufnahme brachte nicht mehr Klarheit.
"Wir haben hier Aussage gegen Aussage: Das schließt ein Urteil natürlich nicht aus", machte Seichter deutlich. Bereits klar ist dagegen, dass sich künftig ein anderer Richter mit dieser verfahrenen Angelegenheit befassen muss, denn Jürgen Seichter geht Ende dieses Jahres in den Ruhestand. Zuerst gilt es jetzt aber abzuwarten, welche Erkenntnisse die technische Auswertung der beiden beschlagnahmten Taxameter bringt. Darüber hinaus soll ein weiterer Polizeibeamte als Zeuge geladen werden. Denn derjenige, der am Donnerstag dem 62-Jährigen eine "glaubwürdige" Schilderung des Tathergangs attestierte, war, wie sich herausstellte, erst der zweite Beamte, mit dem der Taxifahrer in Kontakt gekommen war, als er das Polizeirevier in Gießen aufgesucht hatte, um Anzeige zu erstatten. Von dem anderen Beamten, dem damaligen Erstkontakt, erhofft sich das Gericht ebenfalls zusätzliche Erkenntnisse - vor allem aber mehr Klarheit.
Der Verteidiger ließ derweil keinen Zweifel daran, alles für seinen Mandanten versuchen zu wollen. Schließlich würde diesem bei einer Verurteilung "eine dreijährige Mindeststrafe" drohen. "Da gehe ich wirklich bis zum Äußersten." Und zum Taxifahrer gewandt, fügte der Anwalt hinzu: "Wenn es hier so ausgeht, dann nehme ich mir Sie vor."
Von Frank-O. Docter