Wie ein Limburger Verein Angehörigen nach einem Suizid hilft
Christine Laubers Sohn hat sich das Leben genommen. Der Verein Agus hat ihrer Familie geholfen, die Trauer zu bewältigen. Heute leitet sie selbst Gruppenstunden für Angehörige.
Limburg-Weilburg. Es gibt viele Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen in eine Lebenskrise geraten. Kommt noch die dunkle Jahreszeit mit ihren nebelverhangenen nasskalten Tagen hinzu, leiden manche umso mehr. Es ist ihnen dann vielleicht nicht mehr möglich, sich anderen mitzuteilen oder Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie sehen nur noch den Ausweg, ihr Leben vorzeitig selbst zu beenden. Dabei ahnen sie nicht, dass sie bei ihren Angehörigen und Freunden einen tiefen, lang anhaltenden Schmerz hinterlassen, der oftmals mit Schuldgefühlen und Schuldzuweisungen einhergeht.
Auch die Frage nach dem Warum kann bei den Zurückgebliebenen ein Gefühls- und Gedankenchaos auslösen. Ihre Ohnmacht und Hilflosigkeit führen nicht selten zu Depressionen. Jahr für Jahr sterben in Deutschland mehr als 9.000 Menschen durch Suizid. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sind das mehr als doppelt so viele wie insgesamt durch Verkehrsunfälle und Drogen ums Leben kommen.
In solchen plötzlichen und unvorhersehbaren Krisensituationen leisten Mitarbeiter/innen der Notfallseelsorge Limburg-Weilburg den ersten Beistand und können Betroffene eine Zeit lang begleiten. Ihnen kurz- und langfristig zu helfen, das hat sich der Verein „Angehörige um Suizid“ – kurz Agus e.V. – zur Aufgabe gemacht. Sein Beistand ist unabhängig davon, wie lange der Suizid zurückliegt.
Erste Ansprechpartnerin und Gruppenleiterin im Kreis Limburg-Weilburg ist Christine Lauber. Mittelhessen.de mit der in Bad Camberg praktizierenden Heilpraktikerin für Psychotherapie und unter anderem Trauerbegleiterin über den Suizid, die Problematik für Hinterbliebene und über Lösungen aus der scheinbar ausweglosen Situation.
Frau Lauber, worum handelt es sich bei Agus?
Agus ist in Europa der größte und älteste Verein, der sich für die Belange und Interessen Suizidtrauernder einsetzt. Getragen wird er von Ehrenamtlichen, die dank ihrer Über-Lebenserfahrung Menschen Halt geben und Perspektiven aufzeigen, wenn das eigene Leben unwiederbringlich zerstört scheint.
Was hat Sie veranlasst, beruflich therapeutisch zu arbeiten?
Schon immer war die Arbeit mit und an Menschen ein Herzensanliegen von mir – die Einzigartigkeit eines jeden. Dies konnte ich bereits früh als gelernte medizinische Fachangestellte ein Stückweit erleben und einbringen. Nach meiner psychotherapeutischen Ausbildung arbeitete ich zunächst in einer gynäkologischen Praxis mit dem Schwerpunkt Onkologie sowie bis heute in eigener Praxis. Es ist mir ein Anliegen, Menschen zu helfen, auch in herausfordernden, scheinbar aussichtslosen Situationen, an ihren heilen inneren, unzerstörbaren Kern und damit zurück ins Leben zu kommen.
Und warum engagieren Sie sich ehrenamtlich für Agus?
Nach dem plötzlichen Tod unseres 28-jährigen Sohnes habe ich in dem großen Schmerz nach Unterstützung für meine Familie gesucht und bin dabei auf Agus gestoßen. Ich habe hierbei die Arbeit des gemeinnützigen Vereins kennen und schätzen gelernt, insbesondere unter dem Aspekt, dass Suizidtrauernde unter dem scheinbar unüberwindbaren Verlust die Möglichkeit haben, sich in einem geschützten Raum mit Gleichgesinnten auszutauschen und dabei Hilfe zu erfahren.
Was geht in Menschen vor, die ihrem Leben ein Ende setzen?
Dass sich Menschen selbst das Leben nehmen, kommt in allen sozialen Schichten, allen Lebensaltern und Berufsgruppen vor. ‚Den Suizid‘ gibt es nicht. Die Ursachen sind vielfältig, jeder Todesfall ist anders. Mitunter sind schwere psychische Erkrankungen, Depressionen oder Alkohol und Suchtthematik mit im Spiel. Denkbar ist auch eine genetische Veranlagung. Manchmal erfolgt der Suizid ohne erkennbare Hinweise auf die Gefährdung.
Oft hadern Angehörige und andere Nahestehende mit sich selbst, werfen sich Versagen vor, sehen ihr eigenes Leben zerstört und fragen: „Warum hast du mir das angetan?“ Nicht selten werden Hinterbliebene mit Abstand und Vorurteilen betrachtet. Wie beurteilen Sie die Situation?
Ja, das ist eine große, eine vielschichtige Problematik. Der Verlust durch Suizid bringt die Zurückgebliebenen an die eigene Belastungsgrenze und verändert das Leben grundlegend. Nichts ist mehr so, wie es war. Das Erleben eines Suizids macht nicht nur die Betroffenen fassungs- und sprachlos, sondern auch das nähere und erweiterte Umfeld. Scham- und Schuldgefühle und anderes erschweren die Trauer. Das sind zentrale Themen in unseren Treffen. Es gibt keine allgemeingültige richtige oder falsche Art zu trauern, um diese schwere Lebenskrise zu bewältigen.
Trauern ist die Lösung, nicht das Problem.
Welche Angebote kann Agus Betroffenen machen?
Agus versteht sich nicht als Ersatz für medizinische oder therapeutische Hilfen, sondern als wichtige Ergänzung. Der Verein legt großen Wert auf den Austausch und auf Betroffenenkompetenz, hilft bei der Neugründung regionaler Selbsthilfegruppen durch Schulungen. Darüber hinaus bietet Agus Seminare, Jahrestreffen mit über 200 Teilnehmenden, eine eigene Broschürenreihe sowie Flyer an und derzeit monatliche Online-Fachvorträge.
Und worin besteht Ihr persönlicher Beitrag im Rahmen der Vereinsarbeit vor Ort?
Auf der Grundlage meiner Ausbildung besteht meine Aufgabe in der ehrenamtlichen Leitung von Gruppenstunden. Hier kann im wahrsten Sinne des Wortes mitgefühlt werden, ohne im gemeinsamen Leid zu versinken. Das ist eine wesentliche Hilfe bei der Verarbeitung. Suizidhinterbliebene sollen Trost erfahren und ermutigt werden, neues Vertrauen in das Leben und zu sich selbst zu finden. Ferner stelle ich Informations- und Fachmaterial zur Verfügung und bin mit der Notfallseelsorge in Kontakt.
Es gibt ja auch einschlägige Foren im Internet.
Ja, seit dem Frühjahr 2006 bietet Agus auch Ansprache und Austausch rund um die Uhr an. Es ist fast immer jemand da. Ein sorgfältiger, achtsamer und einfühlsamer Umgang miteinander ist in einem Forum unseres Themas unerlässlich. Deshalb gibt es Forenregeln. Das Forum ist moderiert, das heißt, dass die Beiträge, die die Teilnehmer einstellen, regelmäßig überprüft werden.
Auf welcher Basis arbeitet Agus?
Die Basis bilden Ehrenamtliche. Die Leiterinnen und Leiter durchlaufen eine Schulung, damit sie auf ihre wichtige Funktion gut vorbereitet sind. Mittlerweile haben wir über 90 Selbsthilfegruppen in Deutschland, die von Hauptamtlichen der Bundesgeschäftsstelle in Bayreuth unterstützt werden. Eng verbunden mit Agus ist Chris Paul, eine der bundesweit renommiertesten Trauerbegleiterinnen. Sie leitet das Trauerinstitut Deutschland in Bonn. Die Autorin und Dozentin begleitet Agus mit der Ausrichtung: Trauern ist die Lösung, nicht das Problem.