An Opfer denken und Haltung zeigen

Ein Gedenkstein auf dem Gelände von Vitos Weil-Lahn in Weilmünster. Foto: Vitos
© Vitos

Auf den 1. September 1939 ist Hitlers sogenannter "Euthanasie-Erlass" datiert. Auch in heutigen Vitos-Einrichtungen wurden unzählige Menschen ermordet. Vitos mahnt, das...

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. Hadamar, Weilmünster, Herborn (red). Vitos nimmt den 1. September, den Tag, auf den der sogenannte "Euthanasie-Erlass" des Jahres 1939 datiert ist, zum Anlass, um an die Geschichte der Opfer des Krankenmordes unter der nationalsozialistischen Diktatur zu erinnern. In vielen Vitos-Einrichtungen wurden zwischen 1934 und 1945 Menschen aufgrund einer Behinderung oder einer psychischen Erkrankung zwangssterilisiert oder ermordet.

"Es ist Vitos ein großes Anliegen, die Erinnerung an die Opfer der sogenannten Euthanasie der Nazis wachzuhalten. Sie mahnen uns, mit den Menschen, die sich uns anvertrauen, stets vertrauenswürdig, wertschätzend und verlässlich zu interagieren", sagt Reinhard Belling, Vitos-Konzerngeschäftsführer. Martin Engelhardt, Geschäftsführer der Vitos Gesellschaften Weil-Lahn und Herborn, unterstreicht die Bedeutung des Gedenkens: "Der Wunsch zu vergessen ist menschlich, aber ihm nachzugeben wäre sträflich. Aus der Erinnerung und der Beschäftigung mit unserer Vergangenheit erwächst eine Haltung, die verhindern kann, dass Menschen jemals wieder aufgrund ihrer Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, Geschlecht oder Gesundheitszustand ausgegrenzt, diffamiert, in ihrer Existenz bedroht oder gar vernichtet werden." Es sei gerade in der heutigen Zeit wieder besonders wichtig, möglichen Anfängen zu wehren.

Ein exemplarisches Schicksal ist das des Jürgen M.. Er wurde im Juli 1939 in Stuttgart geboren. Seine Todesurkunde wurde in Erbach (heute ein Ortsteil von Eltville) ausgestellt. Sie datiert auf Dezember 1941. Der ältere Bruder, Claus M. erinnert sich. Das Baby schrie und weinte sehr viel. "Eines Tages im Herbst 1941 - ein genaues Datum ist mir nicht in Erinnerung - standen zwei fremde Menschen in unserem Kinderzimmer und ließen sich von meiner Mutter unseren kleinen Bruder Jürgen aushändigen. Meine Mutter weinte. Das sehe ich noch vor mir." Die Mutter erklärte, Jürgen sei krank und werde in ein Krankenhaus gebracht, wo er wieder gesund werden solle. Dann aber erreichte die Familie die Nachricht, das Kind sei an einer Lungenentzündung gestorben - auf dem Eichberg im Rheingau. Der Tod durch Lungenentzündung war eine häufig genutzte Angabe zur Todesursache von Krankenmordopfern. Die Frage, wo sich Jürgens sterbliche Überreste befinden, ist nicht endgültig geklärt. Den Eltern wurde eine Urne oder ein Sarg überstellt, darin angeblich die Überreste des Kindes. Am 9. Juli diesen Jahres wurde in Stuttgart-Feuerbach für Jürgen M. ein Stolperstein verlegt.

Warum erinnert Vitos am 1. September an die grausamen Morde? Auf dieses Datum hatte Hitler sein - wohl erst im Oktober des gleichen Jahres verfasstes - Schreiben an seinen Begleitarzt und den Leiter der "Kanzlei des Führers" datiert, in dem er die dazu willigen Ärzte ermächtigte, Menschen zu töten, die nach den Vorstellungen der Nationalsozialisten "Ballastexistenzen" darstellten.

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Es handelte sich um Menschen mit einer geistigen oder schwerwiegenden körperlichen Behinderung, um Menschen, die psychisch krank waren, aber auch um Menschen, die nicht in das Bild der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" passten: etwa Obdachlose oder "schwer Erziehbare".

Durch die Datierung entstehe, erklärt Vitos, ein Zusammenhang zwischen dem mit dem Überfall auf Polen begonnenen Krieg nach außen und dem "Krieg nach innen", gerichtet gegen alle, die dem damals so bezeichneten "gesunden Volkskörper" nicht entsprachen. Der Brief ist auch unter dem Begriff "Euthanasie-Erlass" bekannt. Das sei, teilen die Vitos-Einrichtungen mit, irreführend: Eine offizielle gesetzgeberische Legitimierung des Krankenmordes habe es nie gegeben, wohl aber eine funktionierende Verwaltung, die zunächst die Ermordung von in Heimen oder psychiatrischen Krankenhäusern (Heilanstalten) untergebrachten Menschen zentral von Berlin aus organisierte.

Die historische Forschung nannte diese erste Phase des Krankenmordes nach deren Berliner Adresse in der Tiergartenstraße 4 später "Aktion T-4". Heute erinnert dort eine Informations- und Gedenkstätte an die rund 600 000 Opfer. Man geht von rund 200 000 ermordeten Menschen aus, etwa 400 000 wurden seit 1934 zwangssterilisiert. (Quelle: statista.com, veröffentlicht am 8.4.2020).

Die erste Mordphase (Januar 1940 bis August 1941) wird auch "zentrale Euthanasie" genannt, weil die Ermordung der Patienten und Bewohner, die aufgrund von Meldebögen aus den damaligen Heimen und Heilanstalten als nicht lebenswert eingestuft worden waren, in sechs zentralen Gasmordanstalten stattfand.

Hadamar war eine der sechs Gasmordanstalten

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Als eine dieser Gasmordanstalten fungierte die Heilanstalt Hadamar. Dort hat heute die zentrale hessische Gedenkstätte ihren Sitz, die der Landeswohlfahrtsverband Hessen betreibt. Die Mordopfer wurden in den "grauen Bussen", oft über eine Zwischenstation in einer nahe gelegenen Heilanstalt, in die Gasmordanstalten gebracht.

Im August 1941 beendeten die Nationalsozialisten auf öffentlichen Druck insbesondere durch Vertreter der katholischen Kirche die zentrale Mordaktion. Doch das Morden ging weiter: Es fand jetzt nicht mehr an zentralen Orten statt, sondern vor Ort in den jeweiligen Heimen oder psychiatrischen Heilanstalten.

In Hessen waren insbesondere vier der heute zu Vitos gehörenden psychiatrischen Zentren dezentrale Mordorte: die Landesheilanstalten Eichberg bei Eltville (heute Vitos Rheingau), Hadamar und Weilmünster (heute Vitos Weil-Lahn) sowie die Heil- und Erziehungsanstalt Kalmenhof in Idstein (heute Vitos Teilhabe). Auch Kinder und Jugendliche wurden Mordopfer des nationalsozialistischen Regimes: Insgesamt geht man von etwa 25 000 getöteten Minderjährigen aus, rund 5000 davon wurden in sogenannten Kinderfachabteilungen - speziellen Stationen innerhalb psychiatrischer Heilanstalten - getötet.