Lost Place Eisenbahntunnel Weilburg: Weg in eine andere Welt
Michael Müssig aus Weilmünster bringt im Tunnel der stillgelegten Weiltalbahn in Weilburg etwas Licht in das Mysterium verlassener Orte.
LIMBURG-WEILBURG. Im Eisenbahntunnel ist es stockdunkel. Ohne den Lichtstrahl der Taschenlampe ist nicht mal die eigene Hand vorm Gesicht zu erkennen. Genau in der Mitte des Weges, als weder der Eingang noch der Ausgang zu sehen sind, macht Michael Müssig die Taschenlampe aus. Und knipst damit den Zutritt in eine andere Welt an.
Der in Weilmünster lebende 38-Jährige ist Lost-Places-Kenner. Und das nicht nur im Landkreis Limburg-Weilburg, sondern bundesweit. Auch in Österreich und der Schweiz hat er solche Plätze schon besucht. Doch heute ist er im Eisenbahntunnel der stillgelegten Weiltalbahn bei Weilburg unterwegs und bringt etwas Licht in das Mysterium Lost Places.
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Bis der Tunnel jedoch erreicht ist, gilt es, einen Hügel hinaufzuklettern. Bei Nieselregen und nassem Laub, auf dem bei jedem Schritt eine Rutschpartie nach unten droht, gar nicht so einfach. Und auch das dichte Gebüsch, das von kreuz und quer liegenden Baumstämmen durchzogen ist, macht den Aufstieg nicht leichter.
Doch oben angekommen, wartet der Lohn für die Strapazen. Zugewachsen und verwunschen wirkt das Portal. Die Natur holt sich alles zurück. "Es ist zwar ein Lost Place", sagt Michael Müssig, "aber es ist viel Leben drin." Am Tunneleingang ist eine Art Grenzstein platziert, daneben lädt ein kleiner Hocker zur Pause ein. Warum dort eine Kerze liegt, weiß wohl nur derjenige, der sie mitgebracht hat. "Dabei gilt in Lost-Place-Kreisen die Devise: Hinterlasse nichts als Fußabdrücke, und nehme nichts mit, außer Fotos", erklärt der gebürtige Braunfelser, der lange in Weilburg gelebt hat. "Für mich kommt es nicht infrage, etwas zu verändern."
Bruchsteine erschweren das Vorwärtskommen
Der Tunnel enthält eine Kurve, das andere Ende ist vom Eingang aus nicht zu sehen. Ein Weg in die absolute Dunkelheit. Die Gleise sind zwar nicht mehr vorhanden, aber das alte Gleisbett ist noch erhalten. Und grobe Bruchsteine auf dem Schotter erschweren das Vorwärtskommen. Bei jedem Schritt könnte man die Balance verlieren oder umknicken. Deshalb steht die Sicherheit für den 38-Jährigen an erster Stelle. "Ich bereite mich immer gut vor", erzählt er. "Dazu gehört, sich vorab zu informieren und sich den Ort eventuell auch schon vorher anzusehen." Zudem wissen Familie oder Freunde, wo genau er unterwegs ist. "Es kann immer mal vorkommen, dass man sich verletzt und keinen Handy-Empfang hat", erklärt Michael Müssig. "Für diese Fälle sorge ich vor."
Er kann die Leute, die unbedarft und unvorbereitet auf eine Lost-Place-Tour ziehen, um eventuell ein klickreiches Foto für Social Media zu machen, nicht verstehen. "Ich habe mal ein paar Mädels in Flip-Flops auf einem Lost Place gesehen", erinnert er sich. "Das ist sehr gefährlich und geht natürlich gar nicht."
Auch allein auf Tour zu gehen, sei nicht ungefährlich. Meistens ist er deshalb mit ein, zwei anderen Leuten unterwegs. Essenziell sei zudem die Ausrüstung: Helm, Taschenlampe, Karabiner, Sicherheitsseil, aber auch ein Erste-Hilfe-Kasten, Wasser und Kleidung, die dem Anlass entspricht, sind für Michael Müssig unabdingbar. Und wenn er einen Ort erkundet, den er vorher noch nie gesehen hat, ist es für ihn wichtig, sich auf seine Begleiter verlassen zu können. Genau, wie sie auf ihn zählen können. Denn schon ein winzig kleiner unaufmerksamer Schritt könnte reichen, um in einen Abgrund zu stürzen, weil zum Beispiel ein Geländer fehlt, das jemand übersehen hat.
"Das kann leicht passieren, wenn man neue Eindrücke aufnimmt ", erläutert der 38-Jährige. "Zudem ist man ja immer ein bisschen angespannt und voller Adrenalin." In solchen Fällen ist es beruhigend, zu wissen, dass jemand hinter einem steht und stoppen kann.
Im Eisenbahntunnel ist es nicht ganz so gefährlich. Auf den knapp 300 Metern Weg sind alle paar Meter Einbuchtungen in eine Seite gehauen. Dort hängen kleine Tafeln mit Texten, offensichtlich noch aus der Zeit der Entstehung des Tunnels. Zum Beispiel: "Lasset alle Hoffnung fahren, wenn ihr hier eintretet." Mulmige Vorstellung, dorthin flüchten zu müssen, weil eine Dampflok vorbeidonnert. Von solchen Fahrten zeugen noch Rußablagerungen an der Decke.
Am anderen Ende des Tunnels regnet es in Strömen. Das passt zur Stimmung, eine andere Welt erreicht zu haben. In einigen Metern Entfernung modert eine baufällige Brücke vor sich hin, auf der die Gleise noch zu sehen sind. Ein Geländer hindert daran, weiterzugehen. Irgendjemand hat dort einen Briefkasten aufgehängt.
Alles beginnt als Teenager mit einer Mutprobe
Auf dem Rückweg durch den Tunnel erzählt Michael Müssig, wie seine Faszination für verlassene Orte begann. Mit einer Mutprobe nämlich. Damals war er 14 oder 15 Jahre alt. Er musste auf ein verlassenes Gelände. Wo genau, will er nicht verraten. "Alles gehört irgendjemanden", erklärt er. "Man muss sich bewusst sein, dass man fremden Besitz betritt." Deshalb gibt der 38-Jährige seine Geheimtipps auch nicht preis. Denn es handele sich um Hausfriedensbruch, bei dem jeder erwischt werden könne. "Mir ist das auch schon einmal passiert", sagt Müssig. "Auch wenn es bei mir glimpflich ausgegangen ist, ist es nicht zur Nachahmung empfohlen."
Für ihn gibt es dagegen kein Zurück mehr, denn aus dem Hobby ist eine Leidenschaft geworden. Eine Leidenschaft, die viel Zeit in Anspruch nimmt. "Auf einer Location kann man schon mal locker fünf bis sechs Stunden verbringen", erzählt der Weilmünsterer. "Aber alle zwei bis drei Wochen packt es mich, und ich brauche einen Lost-Place-Tag."
Es gehe nicht nur darum, die Orte anzusehen, sondern auch um den geschichtlichen Hintergrund. "Man sieht viel und erfährt auch viel über die Region", beschreibt, Müssig, der als Schreiner arbeitet. "Und man geht raus in die Natur und das bei Wind und Wetter."
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Zudem erzählen die Orte etwas. So wie eine verlassene Mühle in einem benachbarten Landkreis, die ihn besonders beeindruckt hat. Der Besitzer sei verstorben, sein Inventar ist aber geblieben. Fotoalben, Dokumente, Kleidung. "Dort ist noch so viel Persönliches zu sehen. Das hat mich berührt", erzählt Müssig. "Wir sind durch das Getreide gestiefelt und haben uns wie auf einer Zeitreise ins 19. Jahrhundert gefühlt."
Für ihn ist es wichtig, dass die Orte in Erinnerung bleiben, er konserviert sie in Fotos, die er auf seinem Instagram-Account postet: miguel_lost_urbexing. Auch wenn er es schade findet, dass so viele schöne Plätze sich selbst überlassen werden. Er würde sich einen respektvollen Umgang wünschen, und dass mehr Bewusstsein dafür entwickelt würde. "Auch für den Weilburger Eisenbahntunnel", sagt Michael Müssig. "Man könnte ihn umfunktionieren und für verschiedene Events wie Konzerte und Kunstausstellungen oder als Museum nutzen."
Nach zwei Stunden ist das verwunschene Eingangsportal wieder erreicht. Zwei Stunden, die Lust auf weitere Lost Places machen. Obwohl die Rutschpartie den Hügel hinab noch bevorsteht. Aber auch sie geht glimpflich aus.