Wie war die Kindheit in Mittelhessen - in den 50ern und 60ern, aber auch Anfang der 2000er? Unsere Autoren blicken zurück.
. Erich Frankenberg: Kindheit in Mittelhessen um 1950 bis 1965 hatte meist mit wenig Geld zu tun / Schick angezogen war niemand, und Arbeit war auch für die Kinder Alltag
Die Jungen trugen die obligatorischen kurzen Lederhosen und lange Strümpfe, die mit Strumpfbändern verbunden waren. Das Gesamtbild war bei den Jungen nicht sonderlich beliebt. Eine Schirmmütze gehörte dazu und derbe "gepinnte" Schuhe waren beim Fußballspielen in den Gassen der "Owwastoadt", beim Eishockeyspielen auf den Eisteichen der Brauereien im Kottenbach und in der Dexbacherstraße, aber auch beim Skifahren angesagt. Ärger zu Hause gab es, wenn die Sohle bei den "Gepinnten" in Mitleidenschaft gezogen war und bei "Stabs-Heini", einem Schuster, wieder angenäht werden musste. Bei den Mädchen ging es nicht ohne Zöpfe. Unsere Erziehung war neben der Liebe auch von einer gehörigen Portion Strenge geprägt, wobei körperliche Züchtigungen mittels einer Ohrfeige oder Schlägen mit dem Kochlöffel nicht unüblich waren. Auch der eine oder andere Zeichenstock eines Lehrers ging dabei kaputt.
Zu den Freuden gehörte die Ostereiersuche in der Nachbarschaft. Die Osternester wurden mit viel Liebe zu wahren Kunstwerken gestaltet. Neidisch wurden Spielkameraden beäugt, die eine gekaufte Ostereierschatulle ihr Eigen nennen konnten. Glücklich und stolz präsentierten wir unseren Freunden ein bemaltes Osterei oder sogar ein kleines Schokoladenei. Wie es überhaupt Süßigkeiten sehr selten gab. Vielleicht mal ein Stückchen Schokolade oder für 10 Pfennig Himbeerbonbons aus dem großen Glas beim "Fische-Dersch", einem Tante-Emma-Laden. Oft war es Obst aus dem heimischen Garten, ganz selten eine Apfelsine, die man geschenkt bekam.
Mein Vater hat sich damals das Rauchen abgewöhnt, um mir von dem gesparten Geld ein kleines Weihnachtsgeschenk zu kaufen.
Die mit "Onkel" und "Tante" angeredeten Nachbarn gehörten zu unserem Alltag. Da war zum Beispiel Onkel Martin, der Vater meines Freundes Reiner, der als Stellmacher (Wagner) für Eishockeyschläger aus heimischem Holz sorgte. Mein Vater, der im Winter keine Arbeit hatte, machte mit uns Jungen Skitouren auf alten Holzlatten mit Zugbindung in den heimischen Wäldern. Dankbar zeigten wir uns auch über eine "Raspa", die wir uns bei einer dieser Touren in der Gastwirtschaft Schmidt in Dexbach teilten. Für die Wirtsleute war es selbstverständlich, dass wir dazu unsere mitgebrachten Brote verzehren durften.
In der Stadtschule gehörten Griffelkasten und die Schiefertafel zur Erstausstattung. Sport gab Klassenlehrer Gustav Künkel im Anzug. Bei der Vorführung einer Flanke über die Barrenholme entledigte er sich seines Jacketts, um in Hemd, Schlips und Anzughose souverän die Übung vorzuführen. Nicht jeder konnte Gymnasium besuchen
Nach der Schule waren zuerst Hausaufgaben angesagt, vorher war ein Spielen mit den Freunden nicht möglich. Aber danach gab es Freizeit, die erst endete, wenn die Mutter zum Abendessen rief.
Der Besuch des Gymnasiums war nur Kindern der sozial bessergestellten Eltern möglich, selbst der Besuch des Aufbaugymnasiums in Bad Laasphe scheiterte oft schon an den Kosten für die Zugfahrten. Neben dem Fußball-, Völkerball- und Handballspiel gehörte auch das Murmelspiel (Knickkerner) zum Spielalltag. Der Zusammenhalt unter Freunden war groß: Als zwei Freunde eine Stunde nachsitzen mussten, wartete ein weiterer vor den Klassenräumen, bis die zusätzliche Stunde vorbei war, um gemeinsam nach Hause zu gehen, damit den Eltern der beiden nichts auffiel.
Besonders beliebt bei uns war das "Höhlenbauen" im Heu der Scheune unserer Freunde Herbert und Willi und in einer Hecke im Schlossberg.
In der Hecke wurden auch später die ersten Rauchversuche mit aus Kippenresten gedrehten Zigaretten gestartet, die im wahrsten Sinne des Wortes "durchschlagende Ergebnisse" erzeugten.
Erfahrungen fürs spätere Leben konnten wir auch beim Kartoffelausmachen im "Richbach" oder beim Heumachen mit Schorsch und Heinz Arzt machen. Vor allem durften wir dann hoch oben auf dem Heuwagen sitzen und von der Wiese in die Untergasse fahren. Ein Heugebläse war hier die große Neuerung, die nur dort im Einsatz war. Auch das Mitfahren im Beiwagen einer Horex gehörte zu den besonderen Erlebnissen dieser Zeit.
Aus der Oberstadt sind wir in der Kindheit nur selten herausgekommen. Eine Zugfahrt nach Marburg gehörte schon zu den großen Erlebnissen.
Tobi Manges: Vormarsch von Spielkonsolen und Smartphones haben nicht davon abgehalten, Banden zu gründen und draußen zu spielen
Eins vorweg: Doch, ich weiß, was Kassetten sind. Dafür bin ich mit meinen 21 Jahren nicht zu jung. Mein Kassettenrekorder war mein ganzer Stolz. Jeden Morgen ab halb sieben – das Limit hatte ich mit meinen Eltern ausgehandelt – liefen dort die Abenteuer von Benjamin Blümchen. Ich hatte sie alle. "Benjamin als Wetterhahn", "Benjamin als Fußballstar", "Benjamin als Leuchtturmwärter".
Und bis heute lagern die Kassetten in einem blauen Köfferchen in der Ecke meines Schranks. Gehört werden sie nicht mehr, denn einen Kassettenrekorder habe ich leider nicht. Schade.
Statt von der Kassette dudelten die Geschichten mit meinem Lieblingselefanten irgendwann von der CD durchs Haus. War auch nicht weiter schlimm. Schließlich hatten kluge Wissenschaftler herausgefunden, dass ich zur "Generation Z" gehöre und rasante technische Neuerungen eben Teil meiner Kindheit sind.
Trotzdem hat mich der Vormarsch der Spielekonsolen, Computer und Smartphones nicht davon abgehalten, mit den anderen Kindern aus dem Dorf zu spielen. Das noch unbebaute Grundstück gegenüber mit seiner grünen Wiese lockte jeden Nachmittag ab drei Uhr einen Großteil der jungen Dorfbewohner an, die sich dort zum Bolzen trafen.
Meinen Eltern war es wichtig, dass mein jüngerer Bruder und ich wissen, wie wir mit dieser neumodischen Technik angemessen umzugehen haben. So lernte ich beispielsweise, dass zu viel fernsehen gefährlich ist, weil man davon viereckige Augen bekommt. Aber das war mir egal, ich habe sowieso lieber draußen Fußball gespielt. Auch in der Schule. Aus meiner Sicht war es nur ein geringes Hindernis, wenn ich dabei meine guten Hosen anhatte. Meine Mutter sah das etwas anders. Also hat sie den kleinen Jungen schnell in den Fußballverein gesteckt, damit er dort sein Bewegungspensum in dafür angemessener Kleidung absolvieren konnte.
Der Fußballverein war bei uns im Dorf so etwas wie der Treffpunkt aller gleichaltrigen Jungs. Wer dazugehören wollte, der musste beim FSV Manderbach kicken, auf dem alten Ascheplatz. Wer es wagte, im Nachbarort beim SSV Sechshelden zu spielen, bloß, weil die schon einen Kunstrasenplatz hatten, konnte einpacken. So lief das in allen Dörfern. Einige Jugendmannschaften waren so überfüllt, dass ein Aufnahmetraining darüber entscheiden musste, ob der Knirps überhaupt das Zeug zum Nachwuchsfußballer hat. Viele Vereine trauern dieser Zeit heute sicherlich nach.
Im Kindergarten und der Grundschule gab es unter den Freunden keine Grüppchen, sondern "Banden". Das klang einfach besser. Wir waren damals zu viert. Statt uns einen fetzigen Banden-Namen wie "TKKG", "Die Knickerbocker" oder "Die vier Freunde" zu verleihen, hießen wir "Weißbauchseeadler". Ich hatte irgendwann einmal im Fernsehen einen Beitrag über diesen Riesenvogel gesehen, der in Asien und Australien beheimatet ist und giftige Seeschlangen jagt. Das hatte mich überzeugt. Gelegentlich waren die "Weißbauchseeadler" auch nach Schulschluss noch gemeinsam im Wald unterwegs, um Verbrecher zu jagen oder einen Schatz zu finden. Manchmal machten die Hausaufgaben einer langen Suche aber einen Strich durch die Rechnung. Reich geworden sind wir leider nie. Der größte Schatz, den wir gehoben haben, war ein altes Schmink-Set – ohne dass wir wussten, was genau das überhaupt ist.
Der technische Fortschritt machte auch vor dem Eingangsbereich der Schulen nicht Halt. Während mein Opa mir erklärte, dass er ja zu seiner Zeit noch mit dem Griffel und der Tafel unterwegs war, hatte ich Hefte mit liniertem und kariertem Papier im Ranzen. Dazu Bücher über Bücher. Unsere Klassenlehrerin Frau Walter hat – wie es sich für Lehrer gehört – mit Kreide an die Tafel geschrieben. Mit dem Wechsel auf die weiterführende Schule wurden wir mit "Smartboards" konfrontiert, einer interaktiven digitalen Tafel, die mit einem Computer und einem Beamer verbunden ist.
Wenn die Eltern früher mal eine Pause von der Erziehung ihrer zwei Söhne brauchten, wurde der Nachwuchs zu den Großeltern abgeschoben. "Gummibärenurlaub" nannte meine Mutter das. Nicht ohne Grund. Es war ein offenes Geheimnis, dass der Nachwuchs bei den Großeltern innerhalb eines Wochenendes den Zuckerbedarf fürs ganze Jahr deckte. Und egal, wo wir mit unseren Großeltern spazieren gingen, überall schienen andere Menschen jenseits der 60 ungefähr zu wissen, wer wir sind. "Ach, ist das nicht der Kleine vom..?" "Nein, der Große!" "Ach, der Große! Groß bist du geworden!"
Und es stimmt. Ich bin mittlerweile groß geworden. Und auch wenn es mich zwischendurch für einige Zeit an andere Orte in Deutschland und der Welt verschlagen hat, lebe ich nach wie vor in Mittelhessen. Meiner Heimat.