Hinterländer Fahrschülern fehlt es an der Koordination

Fahrschüler in Deutschland sind nach Einschätzung von Fahrlehrern weniger aufmerksam im Straßenverkehr.
© Swen Pförtner/dpa

Die Zahl derer, die an der praktischen oder der theoretischen Fahrschulprüfung scheitern, steigt bundesweit. Der Trend zeigt sich auch im Hinterland. Das hat Gründe.

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Marburg-Biedenkopf. Die Zahl der jungen Menschen steigt, die ihre praktische oder theoretische Fahrschulprüfung nicht bestehen, und zwar spürbar. Vor zehn Jahren taten sich 29 Prozent der Prüflinge mit der praktischen Prüfung im Pkw schwer. 2021 bestanden dagegen 37 Prozent die Prüfung nicht, wie das Kraftfahrzeug-Bundesamt kürzlich mitteilte.

In Hessen sieht es zwar besser aus, der allgemeine Trend ist aber auch hier in der Statistik zu erkennen. Über alle Fahrerlaubnisklassen hinweg fielen 2009 21,6 Prozent durch ihre praktische Prüfung. Für das Jahr 2021 weist die Statistik 26 Prozent aus. Noch mehr ins Auge fällt die Entwicklung bei der theoretischen Prüfung. Etwa jeder fünfte Fahranfänger (18,7 Prozent) musste 2009 erneut antreten. 2021 war es mit 31,1 Prozent fast jeder Dritte, wie die Zahlen des TÜV Hessen belegen.

Die Gründe sind vielfältig, wie Jörg Wetzel, Pressereferent des TÜV Hessen (Darmstadt), auf Nachfrage dieser Redaktion erläutert. Nicht zuletzt hat die Entwicklung in seinen Augen mit der Vorbildung der jungen Leute zu tun. Den Kindern würde im Auto heute vielfach ein elektronisches Gerät in die Hand gedrückt, damit sie auf der Fahrt ruhig sind. Das „Mama-/Papa-Taxi” fahre den Nachwuchs in die Schule und hole ihn auch wieder ab. Der eventuelle Fußweg werde mit dem Handy in der Hand zurückgelegt. „Dadurch wird das, was früher den Kindern ,in die Wiege’ gelegt wurde, ausgehebelt und die ,Verkehrserziehung’ wird dann bei den Fahrlehrern abgelegt”, beklagt Wetzel.

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Nach seiner Beobachtung hat zudem die Belastbarkeit der Prüflinge abgenommen. Früher sei es üblich gewesen, die Theorie- und Praxisprüfung mindestens einer Fahrerlaubnisklasse an einem Tag abzulegen. „Heute ist das die absolute Ausnahme”, berichtet der Pressereferent des TÜV.

Eine Rolle spiele auch der Schwierigkeitsgrad der theoretischen Prüfung. Bis in die 2000er Jahre habe es 30 Fragebögen mit je 30 Fragen gegeben, auf die sich die Fahranfänger vorbereiten mussten. „Heute werden zufallsgeneriert wesentlich mehr Fragen in einer EDV-gestützten Prüfung dem Prüfling präsentiert”, erläutert Wetzel. Videosequenzen würden den Prüflingen eine situative Entscheidung abverlangen. „Dies ist auch gut so, weil die Verkehrsdichte immer mehr zunimmt”, betont Wetzel. Allerdings macht es die Prüfung auch anspruchsvoller.

Genaue Zahlen für den Landkreis Marburg-Biedenkopf legt der TÜV Hessen auf Nachfrage nicht vor, wohl aber für den Bereich der Niederlassung in Gießen. Hier zeigt sich: Zumindest für die vergangenen Jahren ist bei der praktischen Prüfung keine nennenswerte Entwicklung zu beobachten. Im Jahr 2019 fielen im Bereich Gießen 29 Prozent der Prüflinge durch die praktische Prüfung. 2020 waren es 28,3 Prozent, 2021 26,7 Prozent und 2022 27,2 Prozent.

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Diese Zahlen bestätigt Björn Hohn, der in Biedenkopf eine Fahrschule betreibt. Wenn er auf seine Fahrschüler schaue, habe er sogar den Eindruck, dass die Bestehensquote in der praktischen Prüfung in den vergangenen Jahren besser geworden ist. „Das Hinterland ist eben immer etwas anders”, sagt er schmunzelnd. Und fügt sofort etwas ernster hinzu: Vermutlich bestehe ein Gefälle zwischen Land und Stadt. Zumindest habe er kürzlich bei einer Weiterbildung von Kollegen aus städtischen Bereichen gehört, dass den Jugendlichen dort die Praxis schwerer falle als früher.

Probleme mit dem konstanten Lernen

Ein anderer Fahrlehrer aus dem Hinterland, der namentlich nicht genannt werden möchte, beklagt vor allem das mangelnde Engagement der Fahrschüler, was das Interesse an der Theorie anbelangt. Nach seiner Beobachtung mangele vielfach daran, dass die Fahrschüler regelmäßig und konstant lernen. Den Jugendlichen wolle er noch nicht einmal einen Vorwurf machen, betont er. Nach Schulunterricht vom Morgen bis zum späten Nachmittag sei wohl vielfach der Kopf dicht. Fahrschulen könnten daran leider wenig ändern: „Auf den Umgang mit der Theorie haben wir nicht großartig Einfluss.”

Kritischer betrachtet Horst Bieberle die Situation. Er ist Vorsitzender der Region Mitte im Landesverband der hessischen Fahrlehrer. „Die Zahlen sind steigend”, bestätigt er. Einen Grund sieht er im Prüfsystem, das sich in den vergangenen Jahren verändert habe. Noch wesentlicher ist für ihn allerdings der gesellschaftliche Wandel. „Die ganze Gesellschaft hat sich verändert”, sagt er.

Mangel an koordinatorischen Fähigkeiten

Fahren habe viel mit Koordination zu tun, erläutert er. Die Kinder und Jugendliche würden sich aber heutzutage zu wenig sportlich betätigen, was sich dann auf die Koordination auswirke. „Ein Fahrschüler hat mir in der ersten Fahrstunde mal gesagt: Wie soll ich denn Gas, Bremse und Kupplung bedienen? Ich habe doch nur zwei Füße”, berichtet er. Aber auch während der Fahrstunden habe er schon vielfach beobachten müssen, dass es an den koordinativen Fähigkeiten mangelt. Man sehe das etwa daran, wenn jemand mit den Händen unwillkürlich auch das Lenkrad bewegt, wenn er mit einem Fuß bremst.

Er vergleiche das gerne mit einem Hampelmann, erläuterte Horst Bieberle: Wenn man an der Schnur ziehe, bewege der auch Arme und Beine gleichzeitig. Auf die Fahrschule übertragen, heißt das: „Viele haben Probleme, Gas und Bremse zu bedienen, weil es an der Feinmotorik fehlt. Und das hat etwas mit der Kopf-Hand-Koordination zu tun.”

Es mangelt an Selbständigkeit

Es ist aber nicht nur der Mangel an Koordination, der dem Fahrlehrer aus Gießen zunehmend auffällt. Er sieht für die Probleme der jungen Leute, mit dem Straßenverkehr zurechtzukommen, Gründe auch in einer fehlgeleiteten Erziehung. Früher habe man von „Helikopter-Eltern” gesprochen, sagt Horst Bieberle, heute müsse man von „Schneeräumer-Eltern” sprechen: Eltern, die für ihre Kinder sämtliche Probleme aus der Welt schaffen. Selbst bei 20-jährigen Fahrschülern komme es nicht selten vor, dass die Eltern für sie anrufen und Dinge regeln. Diese jungen Erwachsenen hätten nach seiner Erfahrung nicht gelernt, Entscheidungen zu treffen - eine Fähigkeit, die man aber im Verkehr benötige. Bieberle: „Ich frage mich: Wo soll die Selbständigkeit herkommen?”

In diesen Fragen beobachtet Bieberle wie Hohn ein Stadt-Land-Gefälle. „Die Menschen auf dem Land sind andere Menschen als auf dem Land”, meint er. In aller Regel sei man auf dem Land selbständiger, wenn es um den Verkehr geht. Das habe sicherlich viel damit zu tun, dass man auf dem Land eine andere Affinität zu Fahrzeugen habe - einfach deshalb, weil man sie dringend benötige, um überhaupt mobil sein zu können.

Schließlich greift der Fahrlehrer auch den Aspekt auf, den schon der TÜV Hessen genannt hat: die Reizüberflutung. Die Freizeit sei bei vielen Jugendlichen heute mit Aktivitäten vollgepackt, der Griff zum Handy selbstverständlich, Nachrichten und Mitteilungen seien ständige Begleiter. Da müsse es niemanden wundern, wenn Konzentrationsschwierigkeiten die Folge sind. „Ich bin immer froh, wenn jemand sagt: Ich spiele Fußball”, erzählt Bieberle. Dann wisse er schon, dass zumindest die Koordination vorhanden sei.

Wie den Problemen beizukommen ist, kann der Vertreter des hessischen Fahrlehrerverbandes nicht sagen. Eins betont er aber immer wieder: „Die jungen Leute können nichts dafür. Das eigentliche Problem sind die Gesellschaft und die Eltern.”