Hochwasser-Einsatz: "Werde ich mit Toten konfrontiert?"
Schlamm, verwüstete Häuser, die Gewalt des Wassers: So haben Retter der DLRG Marburg-Biedenkopf die Hochwasserkatastrophe im Sommer erlebt - und anschließend verarbeitet.
MARBURG-BIEDENKOPF/ERFTSTADT. Autos eingeschlossen im Schlamm, zerstörte Maisfelder und verwüstete Häuser. Heike Düregger ist, seitdem sie denken kann, in der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG). Nichts hat sie so erschrocken wie das: Wie viel Gewalt Wasser haben kann. Die Marburgerin ist im Juli in Nordrhein-Westfalen, in Erftstadt. Kurz zuvor hatte das Hochwasser weite Teile der Stadt verwüstet. Wie haben Retter der DLRG diesen Einsatz erlebt - und ihn dann verarbeitet?
Donnerstag, 15. Juli, etwa 20 Uhr: Die Leitstelle alarmiert den Wasserrettungszug des DLRG-Bezirks Marburg-Biedenkopf, erinnert sich Michael Kirch, Vorsitzender der DLRG-Ortsgruppe Gladenbach.
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Die Wasserretter sollen bei einer der verheerendsten Hochwasserkatastrophen Deutschlands helfen. Gesagt, getan: Die DLRGler organisieren schnell das Nötigste und machen sich dann zunächst auf den Weg nach Düsseldorf. Dort sammeln sich Hilfs- und Rettungsorganisationen, bevor sie in die Städte und Gemeinden aufbrechen, die von der Flut getroffen wurden. Doch dieser Plan wird schnell verworfen.
Freitagmorgen, etwa um 5 Uhr, bekommen die Wasserretter neue Anweisungen: "Kurz vor Düsseldorf hieß es dann, dass wir direkt nach Erftstadt fahren sollen", erzählt Kirch. Unter den 25 DLRGlern aus Marburg-Biedenkopf ist auch die 47-jährige Heike Düregger.
"Bei der Anfahrt macht man sich schon Gedanken", sagt Düregger. Zwar sei sie bereits bei einem Hochwasser im Einsatz gewesen, 2013 an der Elbe. Doch der Einsatz in Erftstadt ist anders. An der Elbe ging es um die Deichverteidigung, also darum, die Katastrophe so weit es geht zu verhindern. In Erftstadt ist die Katastrophe aber längst geschehen. "Man fragt sich, was man vor Ort vorfindet, ob das Wasser noch in den Straßen steht, ob man das Boot braucht", veranschaulicht Düregger.
"Man fragt sich, was man vor Ort vorfindet, ob das Wasser noch in den Straßen steht, ob man das Boot braucht."
Heike Düregger, DLRG Marburg-Biedenkopf
Doch ihr Gedanke bleibt ein Gedanke: Boote müssen die Wasserretter aus Marburg-Biedenkopf nicht einsetzen. Sie werden aber anderweitig gebraucht. "Kameraden sind in Häuser gegangen, in denen noch Menschen waren", erzählt Düregger. "Sie haben die Bewohner überzeugt, sich doch evakuieren zu lassen und Misstrauen ausgeräumt." Ob Angst vor Plünderungen oder kranke Menschen: Die Gründe dafür, nicht zu gehen, sind vielfältig.
Michael Kirch aus Lohra ist unter den Rettern, die Menschen aus ihren Häusern holen. "Erst versucht man es mit guten Worten, aber wenn gar nichts geht, müssen wir die Polizei zur Hilfe holen. Man kann ja niemanden zurücklassen", sagt Kirch.
Während solch eines Einsatzes mache sich der Retter keine großen Gedanken. Da läuft ein Automatismus ab: Das, was Kirch in seiner Ausbildung gelernt hat, kommt zum Einsatz. Doch das bedeutet nicht, dass er seinen Verstand ausschaltet. "Sonst könnte man sein eigenes Leben aufs Spiel setzen", erklärt Kirch.
Anwesenheit der Retter hat beruhigende Wirkung
Als er aus den Häusern Menschen evakuiert, befindet sich Düregger mit anderen Kameraden vor der Feuerwache in Erftstadt. Sie bilden die Reserve, bereit dort einzuspringen, wo Hilfe gebraucht wird. Die Anwesenheit dieser Retter habe eine beruhigende Wirkung auf die Bewohner der Stadt gehabt, erinnert sich Düregger. Die Bewohner wissen, dass jemand da ist, der ihnen hilft. Unterdessen geht Düregger vieles durch den Kopf: "Was könnte mich erwarten? Werde ich mit Toten konfrontiert?"
All das kann auf die Seele schlagen. Deswegen können sich Retter bei einem Einsatz auch stets an die Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) wenden. Diese steht sowohl Rettern als auch Patienten, Augenzeugen oder Angehörigen zur Verfügung, die eine Katastrophe psychisch belastet. Zwar nehmen weder Düregger noch Kirch diesen Dienst in Erftstadt in Anspruch. Das heißt aber nicht, dass sie sich nicht mit dem Einsatz auseinandersetzen müssen. Sie verarbeiten ihn auf ihre Weise.
"Ich mache das eher mit meinen sozialen Kontakten aus", erzählt Düregger. Das heißt, sie spreche mit Kameraden in der DLRG oder Freunden im Technischen Hilfswerk (THW) sowie in Freiwilligen Feuerwehren über Einsätze. "Aber auch im Privaten habe ich Leute, mit denen ich darüber reden kann", sagt sie.
Zusammensetzen und darüber Reden
Grundsätzlich würden sich die Wasserretter nach einem Einsatz zusammensetzen und darüber reden, was gerade passiert ist, erläutert Kirch. "Man lässt die Leute in ihren eigenen Worten erklären, baut zu ihnen Vertrauen auf", veranschaulicht er. Wichtig dabei: "Keiner wird lächerlich gemacht; alles wird ernstgenommen." Und falls der Austausch unter Kameraden nicht hilft? PSNV, Seelsorge oder Psychotherapie. Das Reden sei aber nicht nur wichtig, um das Erlebte zu verarbeiten, findet Düregger. Dadurch werde schließlich auch reflektiert, was im Einsatz gut lief und was schlecht.
"Keiner wird lächerlich gemacht; alles wird ernstgenommen."
Michael Kirch, DLRG Marburg-Biedenkopf
Und obwohl Düregger und Kirch das Reden unter Kameraden gereicht habe, um zu verarbeiten, sei es wichtig, dass es Angebote wie die PSNV gibt. "Man hat gemerkt, dass auch Helfer Hilfe brauchen", sagt Düregger. Schließlich sollen die Retter von heute auch bei der Katastrophe von morgen einsatzbereit sein - wie Düregger es ist.
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Zwar sagt sie, dass das Hochwasser in Erftstadt Dimensionen angenommen habe, "die man nicht oft erlebt und eigentlich nicht mehr erleben möchte". Sie sagt aber auch: "Ich würde das definitiv wieder machen." Woher kommt diese Motivation? "Solche Katastrophen können wir nicht allein bewältigen; nur gemeinsam können wir das schaffen. Und mir geht es eben gut genug, dass ich helfen kann", erklärt die Retterin.