Marburger Corona-Experte: „Der Schrecken lässt nach“
Professor Harald Renz vom Uni-Klinikum spricht im Interview über Pandemie und Endemie, die Gefahr von Langzeitfolgen und die neue Normalität.
Marburg-Biedenkopf. Im vierten Jahr der Corona-Pandemie fragen sich viele Menschen, wie lange das Virus noch eine Gefahr bedeutet. Harald Renz, Direktor des Instituts für Labormedizin am Marburger Universitätsklinikum, ordnet im Interview die aktuelle Entwicklung ein und verrät, ob die Normalität zurückkehrt.
Herr Professor Renz, der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité sagt, die Corona-Pandemie werde zu einer Endemie. Was bedeutet das?
Eine Pandemie ist eine weltumspannende Infektionslage, eine Endemie ein lokal begrenztes Ausbruchsgeschehen. Ich glaube, Herr Drosten wollte zum Ausdruck bringen, dass der Schrecken und die große Gefahr der Corona-Infektion jetzt einigermaßen beherrschbar sind und nicht mehr so um sich greifen, wie das in den vergangenen Jahren der Fall war.
Ist das eine stabile Situation oder kann die Gefahr zurückkehren?
Das kann niemand voraussehen, aber die vielen Varianten, die das Virus herausgebildet hat, sind ja nicht nur die Alpha-, Delta- und Omikron-Varianten. Man gewinnt schon den Eindruck, dass sich Corona in Hinblick auf seine Gefährlichkeit leerläuft. Natürlich kann man nicht ausschließen, dass doch mal wieder eine Kombi-Variante auftritt, die wieder mehr Schrecken verbreitet und mit höheren Intensiv- und Todeszahlen verbunden ist. Aber die Wahrscheinlichkeit wird mit der Zeit immer niedriger.
Dennoch bleibt Corona in den Schlagzeilen. Aktuell wird die Variante XBB 1.5 diskutiert, die in den Vereinigten Staaten auftritt. Ist sie ein Grund, sich Sorgen zu machen?
Grundsätzlich kann alles zu uns kommen. Gerade wurde ja die Testpflicht für Einreisende aus China eingeführt, denn natürlich kann ein Virus in unserer mobilen Gesellschaft von einer Region in die andere schwappen. Aber insgesamt können wir für alle Varianten sagen, dass sie nicht so besorgniserregend sind, wie wir das am Anfang der Pandemie mit Alpha und Delta erlebt haben. Insgesamt lässt der Schrecken nach. Aber durch die schiere Masse der Erkrankten wirken die Zahlen hoch: Wenn die Wahrscheinlichkeit, auf die Intensivstation zu kommen, beispielsweise bei einem von tausend Erkrankten liegt, sind das bei einer Million immer noch tausend Menschen.
Von politischer Seite wird kaum noch etwas gegen Corona unternommen. Können wir schon zur viel beschworenen Normalität zurückkehren?
Wir brauchen ja einen Umgang in unserem Alltagsleben mit all diesen Infektionserkrankungen. Ich sage das bewusst so, denn wir haben ja nicht nur Corona, sondern auch Influenza, also die Grippe, außerdem andere Atemwegsviren wie RSV, es gibt auch noch Bakterien, die Scharlach auslösen und in Europa übrigens ebenfalls zunehmen. Wir haben es mit einem breiten Infektionsgeschehen zu tun, in das sich das Coronavirus einreiht.
Das Robert-Koch-Institut meldet derzeit 300 Corona-Tote pro Tag in Deutschland. Das erscheint viel ...
Wie gesagt: Wenn wir Millionen an Infizierten haben und es den allermeisten davon einigermaßen gut geht, dann ist die Restgruppe, der es wirklich schlecht geht oder in der Patienten sogar sterben, relativ groß. 300 Tote entsprechen quasi den Passagieren eines mittleren Jumbos, das muss man sich mal überlegen. Das sind eine ganze Menge Todesfälle, die wir im Prinzip jetzt erstmal in Kauf nehmen.
Genau das wird durchaus auch kritisiert. Es gibt den Vorwurf, man lasse Corona durch die Bevölkerung laufen.
Wir können ja unser Land nicht lahmlegen. Wir haben auch Erkrankungen wie beispielsweise Sepsis, also bakterielle Blutvergiftungen. Daran sterben jedes Jahr 50.000 Menschen, überwiegend in Krankenhäusern. Das ist immer auch eine Frage der medialen Aufmerksamkeit. Im Moment reden wir relativ wenig über die 300 Corona-Toten jeden Tag.
Eine weitere große Sorge bei einer Corona-Infektion sind Langzeitfolgen. Inzwischen gibt es Angebote für Long-Covid-Patienten, Selbsthilfegruppen organisieren sich. Wie hoch ist die Gefahr, bleibende Schäden davonzutragen?
Das ist ohne Frage eine sehr berechtigte Sorge. Es gibt einen gewissen Anteil an Corona-Erkrankten, die unter Long Covid leiden. Das betrifft vor allem Patienten mit Vorerkrankungen, auch ältere Menschen, die relativ schwere Verläufe hatten. Bei diesen Menschen ist das Risiko, dass Langzeitschäden zurückbleiben, relativ hoch. Und diese Folgen sind sehr unterschiedlich: Es können alle möglichen Organe betroffen sein, die Blutgefäße, Herz, Niere, Lunge, aber auch das zentrale Nervensystem. Deswegen ist eines der führenden Symptome das chronische Müdigkeitssyndrom, unter dem viele der Long-Covid-Patienten leiden. Da wir noch immer nicht genau wissen, was die Ursache für Long Covid ist, fällt es nach wie vor schwer, diese Patienten nicht nur zu diagnostizieren, sondern auch gut zu therapieren. Man kuriert die Symptome, aber kommt nicht an die Ursache heran. Wir werden sehen müssen, wie sich das weiter entwickelt.
Steigt das Risiko für Long Covid, je häufiger man sich mit Corona infiziert?
Natürlich hat man mit jeder Infektion ein neues Risiko, bleibende Schäden davonzutragen. Das ist rein statistisch so.
Gibt es Menschen, die immun gegen Corona sind?
Auch das gibt es immer wieder. Es gibt immunologisch betrachtet Resistenzmechanismen, wie wir sie beispielsweise auch von HIV kennen. Bestimmte Menschen mit seltenen Mutationen in bestimmten Genen sind wohl resistent, aber wie genau das bei Sars-Cov2 möglich ist, haben wir bislang noch nicht verstanden.
Klingt so, als seien Medizin und Wissenschaft mit ihrem Wissen um Corona noch am Anfang.
Man muss natürlich sagen, dass Corona vor drei Jahren erstmals aufgetaucht ist. Und seitdem gibt es eine steile Wissenskurve. Weltweit betrachtet, aber auch hier in Deutschland, ist viel passiert: Es haben sich Netzwerke gebildet, alle möglichen klinischen Studien sind gelaufen, die Diagnostik ist vorangeschritten, die Impfungen wurden entwickelt, die nächste Generation von Impfstoffen steht an. Dass das an der einen oder anderen Stelle noch immer nicht ausreicht, um wirklich Herr der Lage zu werden, stimmt sicher. Aber eine solche Dynamik in Bezug auf Wissenszuwachs und Erkenntnisgewinn hat es in so kurzer bei keiner anderen Erkrankung gegeben.
Was raten Sie den Menschen, wie sollen sie sich in der aktuellen Situation verhalten?
Die allgemeinen Hygienemaßnahmen stehen natürlich ganz oben. Eine Maske zu tragen, ist sicher eines der besten Dinge, die wir tun können. Das sollte man überall dort machen, wo man enger mit Menschen zusammenkommt, die man nicht kennt. Das gilt für kulturelle Veranstaltungen, aber natürlich auch beim Einkaufen. Dazu sollte man regelmäßig die Hände desinfizieren, das hat sich bei vielen schon ganz gut in den Alltag integriert. Und wichtig bleibt selbstverständlich, sich impfen zu lassen - übrigens nicht nur gegen Corona, sondern auch gegen Influenza, das kann man auch in dieser Saison jetzt noch tun.
Haben wir eine neue Normalität?
Durchaus. Das Tragen einer Maske ist im asiatischen Raum verbreiteter als bei uns. Aber ich denke, die Bevölkerung hat mittlerweile verstanden, wie hilfreich es ist. Da bin ich ganz zuversichtlich.